Ludwig Bechstein
Deutsches Märchenbuch, 1847

Von dem Wolf und den Maushunden


"Am Meeresgestade war eine Schaar Wölfe, darunter war einer besonders blutdürstig, der wollte zu einer Zeit sich einen besondern Ruhm unter seinen Gesellen erwerben, und ging in ein Gebirge, wo viele und mancherlei Thiere sich aufhielten, da zu jagen. Aber dieses Gebirge war umfriedet, und die Thiere waren da sicher vor andern Thieren und wohnten in Eintracht bei einander; darunter war auch eine Schaar Maushunde oder Katzen, die hatten einen König. Nun war der Wolf mit List durch das Gehege gekommen, verbarg sich, und fing sich jeden Tag eine Katze und fraß sie. Das war den Katzen sehr leid, und sie sammelten sich zur Berathung unter ihrem König; und da waren insonderheit drei weise, einsichtsvolle Kater, die berief der König in seinen Rath, und fragte den ersten um sein Votum gegen den schädlichen Wolf. Der erste Kater sprach: "Ich weiß keinen Rath gegen dieses große Ungeheuer, als uns in Gottes Gnade zu befehlen, denn wie möchten wir dem Wolf Widerstand thun?" Der König fragte den zweiten Kater, und dieser sprach: "Ich rathe, daß wir gemeinschaftlich diesen Ort verlassen, und uns eine andere, ruhigere Stätte suchen, da wir hier in großer Trübsal, Leibes - und Lebensgefahr verweilen müssen." Der dritte Kater aber sprach auf des Königs Befragen: "Mein Rath ist, hier zu bleiben und des Wolfs halber nicht auszuwandern. Auch wüßte ich einen Rath, ihn zu überwinden." -"Sage ihn," gebot der König, und der Kater sprach weiter: "Wir müssen Acht darauf haben, wenn der Wolf sich neuer Beute bemächtigt hat, und wohin er sie trägt und verzehrt, dann mußt Du, o König, ich und unsre Stärksten, ihm nahen, als wollten wir das essen, was er übrig läßt, so wird er sich für ganz sicher halten, und von uns sich nichts befürchten. Dann will ich auf ihn springen und ihm die Augen auskratzen, und dann müssen alle Andere über ihn herfallen, so daß er sich unsrer nicht mehr erwehren kann, und es darf uns dabei nicht irren, daß Einer oder der Andere von uns das Leben einbüßt oder Wunden davon trägt; denn wir erlösen dadurch uns und unsre Kinder von dem Feind, und ein Weiser scheidet nicht feig und furchtsam von seinem Vatererbe; nein, er vertheidigt es mit Leibes- und Lebensgefahr." Diesen Rath hieß der König gut. Darauf geschah es, daß der Wolf einen guten Fang gethan hatte, den er auf einen Felsen schleppte, und da führten die Katzen ihre That aus, die der tapfere weise Kater angerathen, und der Wolf mußte schmählich unter ihren Krallen und zahllosen Bissen sein Leben enden."
"Dieses Beispiel," fuhr Vogel Holgott fort, "sage ich Dir, liebes Weib, damit Du begreifst, daß treue Freundschaft hülfreich ist, und darum nehme ich gern den Vogel Mosam zu meinem Freund und Gefährten mit." Als dieses das Weibchen hörte, jubilirte sie innerlich, daß ihr Anschlag so unverdächtig und nach ihres Herzens Wunsch ausging. Und da erhoben sich die drei Vögel nach jener lustigen Stätte, ließen im alten Nest die indeß ausgebrüteten Jungen zurück, bauten dort Nester und wohnten dort friedsam und freundlich bei reichlicher Nahrung eine Zeit mit einander. Und Vogel Holgott, der alt und schwach wurde, und sein Weib hatten den Vogel Mosam viel lieber in ihren Herzen, als er sie, wie sich gleich zeigen wird.
Es kam eine dürre heiße Zeit, so daß alles verdorrte, und der See austrocknete, und die Fische starben; da sprach Vogel Mosam zu sich selbst: "Es ist ein schönes Ding um treue Kameradschaft, und es ist löblich, wenn Freunde zusammenhalten. Aber ein Jeder ist doch sich selbst der Nächste. Wer sich selbst nichts nütze ist, wie soll der Andern nützlich sein? Wer künftigen Schaden nicht voraussieht und ihn meidet, der wird ihm nicht entgehen, wenn er da ist. Nun sehe ich voraus, wie mir die Gesellschaft dieser Vögel Schaden und Abbruch thun wird, da von Tag zu Tag die Nahrung sich mindert; und zuletzt werden sie mich verjagen. Mir aber gefällt es hier wohl, und ich könnte auch allein, ohne Jener Gesellschaft, hier wohnen; da wäre es wohl gut, wenn ich ihnen zuvorkäme, und mich ihrer entledigte, und zwar zuerst des Mannes, denn das Weib vertraut mir ganz, die zwinge ich dann ungleich leichter. Sie kann sogar den Mann tödten helfen."
Mit solchen argen und schändlichen Gedanken flog Vogel Mosam zu dem Weibchen und nahte ihr ganz traurig und niedergeschlagen. Die fragte ihn: "Warum sehe ich Dich so traurig, mein Freund ?" Und er antwortete: "Ich traure über die schwere Zeit, und sehe schreckvoll daher schreiten des Hungers Gespenst. Und zumeist Deinetwegen trauert mein Herz. Eines nur wüßt ich, das Dir frommte, wenn mein Rath nicht unweise Dir dünkt." - "Welcher ist das?" fragte das Weibchen, und Mosam sprach: "Bande der Freundschaft sind mehr werth, als Bande der Blutsverwandtschaft, denn diese ist oft schädlicher als Gift. Ein Sprichwort sagt: Wer eines Bruders mangelt, der hat einen Feind weniger, und wer keine Verwandten hat, der hat keine Neider. Ich will Dir etwas ansinnen, das Dir nützlich sein wird, liebe Freundin, obschon es Dir hart ankommen wird, es zu vollbringen, und Du wirst es mir als ein Unrecht auslegen, daß ich es Dir offenbare, wenn auch es in meinen Augen geringfügig erscheint." Da sprach das Weibchen: Deine Rede erschreckt mich, ich kann mir nicht denken, was Du meinst, und glaube nicht, daß Du mir Uebels rathen wirst. Doch wäre mir ein leichtes, den Tod zu erleiden um Deinetwillen; darum so sprich! Denn wer nicht sein Leben einsetzt für einen treuen Freund, der ist sehr thöricht, denn ein Freund ist immer nützlicher wie ein Bruder oder wie Kinder." Jetzt sprach Mosam mit Arglist: "Mein Rath ist, daß Du suchtest, Deines alten schwachen Mannes los und ledig zu werden, für den Du so mühvoll sorgen mußt; da wird Dir Glück und Heil zureisen, und mir mit Dir! Und frage nicht nach der Ursache dieses Rathes, bis Du ihn vollzogen hast, denn hätte ich nicht guten Grund dazu, so glaube mir, würde ich Dir solches nicht anrathen. Ich schaffe Dir schon einen bessern und jüngern Mann, der Dich immer lieben und beschützen wird. Und thust Du nicht nach meinem Rath, so wird es Dir gehen, wie jener Maus, die auch guten Rath verachtete."
Da fragte das Vogelweib: "Wie war das mit jener Maus?" und Mosam erzählte:

Ludwig Bechstein (1801-1860)