Ludwig Bechstein
Deutsches Märchenbuch, 1847

Das Dornröschen


Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder, wünschten sich aber tagtäglich ein Kind. Zu einer Zeit geschah es, daß die Königin badete, und seufzte, als sie so allein war: "Ach hätte ich doch ein Kind!" Da hupfte ein Frosch aus dem Wasser, und sprach: "Was Du wünschest, soll Dir werden!" Und darauf hat die Königin ein Töchterlein bekommen, das war schön über alle Maaßen, und der König hatte darüber die größte Freude, daß sein liebster Wunsch erfüllt war, und stellte ein großes Fest an, zu dem er alle seine Freunde einlud. Nun lebten in dem Lande auch weise Frauen, die waren begabt mit Zauber- und Wundermacht und genossen große Ehrfurcht vor allem Volke; die lud der König auch ein, und sollten auf goldnen Tellern essen. Damals hatten aber die Könige noch nicht so viele goldne Schüsseln und Teller, wie jetzt, und dieser König hatte nur ein Dutzend, das sind zwölf, und der weisen Frauen war dreizehn, da konnte er auch nur zwölf einladen, und die dreizehnte blieb uneingeladen, was sie aber übel nahm.
Die weisen Frauen begabten das Königskind mit gar köstlichen Gütern, nicht mit Schönheit, denn die besaß es schon, sondern mit Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Anmuth, Sanftmuth, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Sittsamkeit, Tugend, Aufrichtigkeit, Verstand und Reichthum, und eben wollte die zwölfte weise Frau auch noch ihren Wunsch aussprechen, als die dreizehnte in das Zimmer trat, die nicht eingeladen worden war, und zornig ausrief: "In fünfzehn Jahren soll die Königstochter sich in eine Spindel stechen und todt hinfallen!" Mit diesen Worten war die böse Alrune wieder verschwunden und die Andern standen starr vor Schrecken, denn die weisen Frauen machten keine vergeblichen Worte. Ein Glück, daß die zwölfte Alrune ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte. Sie konnte zwar das, was einmal eine weise Frau gedroht hatte, nicht abändern, aber ihm doch eine mildernde Wendung geben, und rief: "Die Königstochter soll nur in einen tiefen Schlaf fallen, der soll hundert Jahre dauern und nicht länger." Der König ließ sogleich ein Regierungsmandat im ganzen Land ergehen, kraft dessen alle Spindeln überall abgeschafft, und dafür die Spinnräder eingeführt wurden, indeß erwuchs die schone Königstochter zu einem Fräulein, das an Schönheit, Holdseligkeit, Freundlichkeit, Milde, Demuth, Züchtigkeit, Herzensgüte, Tugend und Verstand seines Gleichen suchte, und so kam es zu seinem fünfzehnten Jahre, von allen, die es kannten, geliebt, ja angebetet. Und da bekam die Prinzessin gerade Lust, sich im Schloß ein bischen umzusehen, ging durch mehre Gemächer und kam an eine Treppe, die zu einem alten Thurm führte; diese stieg es hinan und kam an ein niedrig Kammerthürlein, da steckte ein alter verrosteter Schlüssel daran, und neugierig, wie die ganz jungen Mädchen sind, drehte die Prinzessin an den Schlüssel, und die Thüre ging gleich auf. Da saß ein uraltes Spinneweiblein und spann ämsig mit einer Spindel; es mochte wohl des Königs Gesetz nicht gehört oder gelesen, oder auch es längst vergessen haben. Die umhertanzende, auf und nieder wirbelnde Spindel aber machte der jungen Königstochter viele Freude, sie haschte nach der Spindel, wollte auch spinnen und stach sich damit, denn es war gerade der Tag, an welchem die Pro- phezeihung der erzürnten weisen Frau in Erfüllung gehen sollte. Und die Königstochter fiel nieder und in einen tiefen Schlaf. Und da überkam derselbe Schlaf auch den König und die Königin und das ganze Schloß. Da mag es schön langweilig gewesen sein! Der ganze Hofstaat schlief ein vom Hofmarschall bis zum Küchenjungen, den der Koch wegen eines Versehens gerade an den Haaren zauste, und ihm eine Ohrfeige geben wollte, und Koch und Kellner, Kammerfrau und Kammerjungfer, Kind und Kegel, Hund und Katze, ja die Tauben und Sperlinge auf dem Dache, die Pfauen und Papageien und selbst die Fliegen, an der Wand, die schliefen alle. Und das Feuer auf dem Heerd legte sich und schlief ein, und der Wind legte sich auch, und wurde alles piepstill, daß man kein Mäuschen im ganzen Schloß mehr knuspern hörte, dieweil die Mäuslein auch schliefen. Und da kam kein Mensch mehr in das verzauberte Schlummerschloß, um welches rund herum eine mächtige Dornenhecke emporwuchs, jedes Jahr einige Schuh höher, bis sie den höchsten Thurm überwachsen hatte, daß man nicht einmal die Fahne und den Wetterhahn mehr sah, und so dicht, daß kein menschliches Wesen eindringen konnte. Und da wurde das Schloß allmählig ganz vergessen, und es ging nur noch die Sage, hinter den Dornen stehe ein Schloß, darin schlafe das Dornröschen, die verzauberte Prinzessin, wie lange schon und wie lange noch, wisse Niemand. Zwar kamen von Zeit zu Zeit Königssöhne, die wollten hindurchdringen durch die Hecke, allein dieselbe war allzudicht und konnten es nicht erlangen, blieben wohl gar in den Dornen verstrickt, und kamen elendiglich darin um.
Und so waren nun hundert Jahre vergangen, und die Zeit war da, daß das Dornröschen wieder erwachen sollte, es wußte dieß aber Niemand genau, und da kam auch ein Königssohn, der hörte die Mär von dem schlafenden Dornenröschen aus dem Mund eines Alten, der sie ihm gewiß versicherte, denn sein Vater und Urgroßvater hatten ihm in seiner Jugend oft davon erzählt und der Alte mußte den Königssohn hin an die berufene Dornhecke führen. Und das geschah just am hundertsten Jahrestag, seit das Dornröschen in seinen Zauberschlaf gefallen war. Und die Dornhecke stand über und über voll Rosenblumen, das war seit Menschengedenken nicht der Fall gewesen, auch konnte der Königssohn frei durch die Dornhecke gehen, kein Dorn berührte sein Gewand, gleich hinter ihm schloß sich die Hecke wieder. Und da fand er alles noch im tiefen Schlummer, und alles unversehrt; kein Wind hatte geweht und kein Regen genäßt, das Jahrhundert war über den Häuptern der Schlummernden so leise hinweggeflogen, wie ein Schwan über einen stillen See voll träumender Wasserlilien. Da schliefen noch alle Fliegen und alle Mäuschen, da schliefen Huhn und Hahn, Katz und Hund, Magd und Zofe, Kammerherr und Kammerknecht, und auch König und Königin. Das alles sah der Königssohn mit großer Verwunderung, ging nun hinauf in den Thurm, und kam in die Kammer, wo das süße Dornröschen lag und so sanft schlief, hehr umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld und vom Glanze seiner Schönheit. Da beugte der Prinz sich nieder, und küßte das Dornröschen, und alsbald schlug es die Augen auf. Der Königssohn sagte ihm, wie alles sich zugetragen, und führte es herab in das Schloß. Da erwachte alles, König und Königin, Zwerg und Zofe, Hunde und Pferde, Feuer und Wasser, Wind und Wetterhahn, und der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er ihm vor hundert Jahren schuldig geblieben war, und alles ging wieder seinen Gang, und wurde eine stattliche Hochzeit ausgerichtet, nämlich des Dornröschens mit dem Königssohn, der es aus dem Schlummer erlöst, und lebten glücklich und zufrieden miteinander, bis an ihr Ende.

Ludwig Bechstein (1801-1860)