Ludwig Bechstein
Deutsches Märchenbuch, 1847

Der Schäfer und die Schlange


Es war einmal ein armer Schäferknabe in einem friedlichen, anmutig gelegenen Dörfchen; bei dem Dörfchen war ein Tal und ein gar trautes Örtlein, an welches der Schäferknabe immer seine Herde hintrieb, und es schien, als habe der Schäfer diesen stillen Ort sich zum Lieblingsplätzchen erwählt. Er aß nicht eher sein Mittagsbrod und suchte nicht eher die kühle Ruhe, bis er an das traute Plätzchen kam. Dorthin zog ihn immer eine unerklärliche Sehnsucht.
Das Plätzchen selbst war ganz einfach: ein roher Stein lag nur da, unter welchem eine Quelle murmelte, und ein wilder Birnenbaum stand dabei, der den Stein überschattete mit seinen dichtbelaubten Zweigen. Doch der Knabe fühlte sich immer so froh, wenn er an diesem Stein aß, aus der Quelle trank, und wenn der Stein sein Ruhekiffen war, und es war ihm dann, als höre er ein geheimnißvolles Singen und Seufzen unter dem Stein; dann lauschte er, entschlummert dann und träumte. Immer war ihm als umschwebe seine Seele ein geheimes, überirdisches Glück. War er fortgetrieben mit der Heerde, und war er Abends heimgetrieben, so bemächtigte sich seiner wieder diese unerklärliche Sehnsucht; er mochte unter der Schaar der muntern Dorf-Bursche und Mädchen nicht lustig singend und schäkernd mit umherziehen, wenn es Feierabend war, vielmehr ging er still und allein, und wurde sogar traurig. Doch, brach der neue schöne Morgen wieder an, und zog er mit seiner Lämmerheerde wieder hinaus auf Flur und Raine, so wurde sein Sinn heiter und immer heiterer, bis er den lieben Stein, den Schatten des trauten Birnbaums erreicht hatte. Oft auch, wenn er dort rastete und auf seiner Flöte blies, begab es sich, daß eine silberweiße Schlange unter dem Stein hervorkam, die sich erst vertraulich an seine Füße schmiegte, sich dann emporwand und den Schäfer anblickte, bis zwei große Thränen aus ihren Augen quollen, und sie dann leise wieder unter den Stein schlüpfte. Da wurde dem Schäfer allemal so eigenthümlich, so wunderbar zu Muthe. Sein Herz war froh, und doch unaussprechlich wehmüthig.
Zuletzt ging der Schäfer gar nicht mehr unter die muntere Zahl der Bursche und Mädchen, das helle lustige Getöse war ihm ganz zuwider, dagegen that ihm die einsame Stille so wohl und wurde ihm immer lieber.
An einem schönen Frühlings-Sonntag, dem Sonntage Trinitatis, den die Landleute den "goldenen Sonntag" nennen, und besonders hoch halten und festlich feiern, wo unter der Dorflinde ein lustiger Tanz gehalten werden sollte, lenkte der stille Schäferknabe von jener unaussprechlichen Sehnsucht getrieben, in der Mittagsstunde seine Schritte dem einsamen Thal zu, wo der Stein und der Birnbaum war. Er grüßte heiter das traute Plätzchen, setzte sich stilldenkend nieder und lauschte dem Flüstern der Baumblätter und dem geheimnißvollen Geplauder unter dem Steine. Da wurde es mit einemmal so licht vor seinen Blicken, ein Bangen durchzitterte sein. Herz, er blickte auf, und sah eine holde Gestalt in weißem Kleide, gleich einem Engel, vor sich stehen, mit sanftem Blick und gefaltenen Händen; und trunkenen Sinnes hörte der Schäfer eine süße Stimme ihm zuflüstern: "O Jüngling, sei nicht bange, o höre das Flehen eines unglücklichen Mädchens, und stoße mich nicht von Dir, und entfliehe nicht vor meinem Jammer. Ich bin eine edle Prinzessin, bin unermeßlich reich an Perlen- und Goldschätzen; aber ich schmachte schon viele Jahrhunderte verzaubert und verbannt hier unter diesem Stein, und muß in einem Schlangenleib umherschleichen. So erschaute ich Dich hier oft, und gewann die Hoffnung, Du könntest mich erlösen, Du seiest noch rein im Herzen wie ein Kind. Und diese jetzige Stunde, als am goldnen Sonntag um die Mittagsstunde, diese allein im ganzen Jahr ist mir vergönnt in meiner wahren Gestalt aus der Erde zu wandeln; und fände ich da einen Jüngling reinen Herzens, so dürfe ich ihn um meine Erlösung ansprechen. Befreie mich, Du Theurer, befreie mich, um alles Heiles willen flehe ich Dich an." Da sank das Mädchen nieder vor die Füße des Schäfers, und umfaßte sie fest, und blickte in Thränen zu ihm empor. Dem Jüngling aber bebte das Herz vor Entzücken, und er hub das Engelmägdlein auf und stammelte: "O sage nur, was soll ich thun, wie soll ich Dich befreien, Du schöne Liebe? " Sie sprach: "Komm morgen um dieselbe Stunde wieder hierher, und wenn ich da in meinem Schlangenleib Dir erscheine, und Dich umwinde und Dich drei mal küsse, so erschrick nur nicht, o so erschrick nur nicht, sonst muß ich abermal auf hundert Jahre hier verzaubert schmachten." Sie verschwand in diesem Augenblick; und es tönte wieder ein leises Singen und Seufzen unter dem Stein hervor.
Am folgenden Tage um die Mittags-Stunde harrte der Schäfer, nicht ohne Bangen an jenem Ort, er flehte zum Himmel um Starke und Standhaftigkeit in dem grauenvollen Augenblick des Schlangenkusses. Und schon wand sich die Schlange silberweiß unter dem Stein hervor, und schlich dem Jüngling zu, und ringelte sich um seinen Leib und hob das Schlangenhaupt mit den hellen Augen empor zum Kusse; aber der Jüngling blieb stark und duldete die drei Küsse. Da geschah ein mächtiger Schlag, da rollten furchtbare Donner um den ohnmächtig hingesunkenen Jüngling, und eine Zauberverwandlung ging rings um ihn vor, und wie er wieder erwachte, lag er auf weichen, seidenen Kissen, in einem wundervoll geschmückten Zimmer, und das holde Mädchen kniete vor seinem Lager und hielt seine Hand an ihr Herz. "O, sei gedankt, Himmel!" rief sie, als er die Augen aufschlug, "o habe Dank, Herzensjüngling, für meine Rettung, und nimm zum Lohn mein schönes Land, und dieses schöne Schloß mit allen kostbaren Schätzen, und nimm mich als Dein treues Weib an. Du sollst nun glücklich sein und sollst Freuden die Fülle haben."
Und dieser Schäfer wurde glücklich und froh; jene Sehnsucht seines Herzens, die ihn so oft hin nach dem Stein, zur stillen Einsamkeit, getrieben - ward herrlich befriedigt. Er lebte, der Welt entrückt, im Schooße des Glücks, mit seiner schönen Gemahlin; und er sehnte sich nicht auf die Erde, nicht zu seinen Lämmern zurück. Aber in jenem Dorfe war ein großes Leid um den so plötzlich verschwundenen Schäfer, die Leute suchten ihn im Thal, bei dem Stein unterm Birnbaum, wo er zuletzt hingegangen war, doch weder der Schäfer, noch der Stein, noch die Quelle, noch der Birnbaum waren mehr zu finden, und kein Auge sah von diesem Allem je das Mindeste wieder.

Ludwig Bechstein (1801-1860)