Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862

Der kleine Tuk


Ja, das war der kleine Tuk. Er hieß eigentlich gar nicht Tuk, aber als er noch nicht ordentlich reden konnte, da nannte er sich selbst so: das sollte Karl bedeuten, und es ist wohl ganz gut, wenn man es nur weiß. Nun sollte er auf Schwesterchen Gustave Acht geben, die noch viel kleiner war als er, und zugleich sollte er auch seine Lection lernen; aber diese beiden Dinge wollten gar nicht recht zusammenpassen. Der arme Junge saß da, mit seinem Schwesterchen auf dem Schooß, und sang ihr alle Lieder vor, die er wußte, und unterdessen schielte er einmal ins Geographiebuch hinein, das offen vor ihm lag; bis morgen früh sollte er alle Städte in Seeland auswendig können und Alles davon wissen, was man eben davon wissen kann.
Nun kam die Mutter nach Hause, denn sie war ausgewesen, und nahm die kleine Gustave auf den Arm; Tuk lief geschwind an das Fenster und las nun so eifrig, das er sich beinahe die Augen ausgelesen hätte, denn es wurde immer dunkler und dunkler; aber die Mutter hatte kein Geld, um Licht zu kaufen.
"Da geht die alte Waschfrau drüben aus der Gasse!" sagte die Mutter, wie sie gerade zum Fenster hinaussah. "Die arme Frau kann sich selbst kaum fortschleppen, und nun muß sie noch den Eimer vom Brunnen schleppen; sei ein gutes Kind, Tukchen, und spring' Du hinüber, und hilf der alten Frau! Ja?"
Und Tuk lief geschwind hinüber und half ihr; als er aber wieder in die Stube kam, da war es ganz finster geworden und von Licht war keine Rede, und nun sollte er zu Bette gehen; das war eine alte Schlafbank, darin lag er und dachte an seine Geographie-Lection und an Seeland und an Alles, was der Lehrer erzählt hatte. Er hätte freilich noch lesen sollen, aber das konnte er ja nicht. Darum steckte er das Geographiebuch unter sein Kopfkissen, weil er gehört hatte, daß das sehr viel helfen soll, wenn man seine Lection lernen will; aber man kann sich doch nicht recht darauf verlassen.
Da lag er nun und dachte und dachte; und da war es auf einmal, als ob ihn Jemand auf Augen und Mund küßte.
Er schlief, und schlief doch wieder nicht; es war gerade, als ob die alte Waschfrau ihn mit ihren sanften Augen anschaute und sagte: "Es wäre eine große Sünde, wenn Du morgen früh Deine Lection nicht wüßtest! Du hast mir geholfen, darum will ich Dir nun auch helfen, und unser lieber Gott wird das immer thun!"
Und mit einem Male kribbelte und krabbelte das Buch unter Tukchens Kopfkissen.
"Kikeliki! Put! Put! Es war eine Henne, die angekrochen kam, und die war aus Kjöge. "Ich bin ein Kjögerhuhn!" *)
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*) Kjöge, ein Städtchen an der Kjögebucht. "Kjögehühner sehen" nennt man, die Kinder durch Umfassen des Kopfes mit beiden Händen in die Höhe heben. Bei Kjöge wurde bei dem Ueberfall der Engländer im Jahre 1807 zwischen diesen und der undisciplinirten dänischen Landwehr ein nicht sehr ruhmvolles Treffen geliefert.

sagte sie, und dann erzählte sie, wie viel Einwohner da wären, und von der Schlacht, die da gewesen wäre, und die war eigentlich gar nicht der Rede werth.
"Krible, Krable, Bums!" da fiel Einer herunter; das war ein hölzerner Vogel, der Papagei vom Vogelschießen Prästöe. *) Der sagte nun, daß dort gerade so viel Einwohner wären, wie er Nägel im Leibe hätte; auch war er sehr stolz. "Thorwaldsen hat dicht nebenan bei mir gewohnt. Bums! Hier liege ich prächtig!"
Aber Tukchen lag nun nicht mehr: mit einem Male saß er zu Pferde.
Galopp, Galopp, Hopp, Hopp! so ging's fort. Ein prächtig gekleideter Ritter mit schimmerndem Helmbusch hielt ihn vor sich auf dem Pferde, und so ritten sie durch den Wald hin zu der alten Stadt Vordingborg; **) und das war eine große, sehr lebhafte Stadt; auf des Königs Burg erhoben sich hohe Thürme, und Lichterglanz strömte aus allen Fenstern; drinnen war Sang und Tanz und König Waldemar und die jungen, geputzten Hoffräulein tanzten miteinander.
Nun wurde es Morgen, und sowie die Sonne kam, sank plötzlich die ganze Stadt und des Königs Schloß zusammen, und ein Thurm nach dem andern; und zuletzt blieb nur noch ein einziger auf dem Hügel stehen, wo früher das Schloß gewesen war, und die Stadt war so ganz klein und arm, und die Schulbuben kamen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: "zweitausend Einwohner"; das war aber nicht wahr, denn so viel hatte sie gar nicht.
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*) Prästöe, ein noch kleineres Städtchen. Einige Hundert Schritte davon liegt der Edelhof Nysöe, wo Thorwaldsen sich während seiner Anwesenheit in Dänemark gewöhnlich aufhielt und viele unsterbliche Werke schuf.
**) Vordingborg, unter König Waldemar ein ansehnlicher Ort, jetzt ein unbedeutendes Städtchen. Nur ein einsam stehender Thurm und einige Mauerreste zeigen, wo das Schloß früher gestanden.
Und klein Tukchen lag in seinem Bette; ihm war so, als ob er träumte und doch wieder nicht träumte; aber es war Jemand dicht bei ihm:
"Klein Tukchen! Klein Tukchen!" sagte es da; das war ein Seemann, eine ganz kleine Person, so klein, als ob es ein Cadett wäre; aber es war kein Cadett. "Ich soll vielmals von Corsör grüßen; das ist eine Stadt, die gerade im Aufkommen ist, eine lebendige Stadt, die Dampfschiffe und Postwagen hat; früher nannte man sie immer häßlich, aber das ist nun nicht mehr wahr."
"Ich liege am Meere!" sagte Corsör, *) "ich habe Landstraßen und Lusthaine; und ich habe einen Dichter geboren, der witzig und unterhaltend war, und das sind sie nicht alle. Ich wollte einmal ein Schiff ausstatten, das rund um die Erde gehen sollte; aber ich that es nicht, obgleich ich es hätte thun können; und dann rieche ich auch so herrlich, denn dicht vor dem Thore blühen die prächtigsten Rosen.
Klein Tukchen sah hin und es ward ihm roth und grün vor den Augen; aber als nun der Farbenwirrwarr ein Bischen vorüber war, da war es auf einmal ein ganz bewachsener Abhang dicht an der Bucht und hoch darüber stand eine prächtige, alte Kirche mit zwei hohen spitzen Thürmen. Aus dem Abhange sprangen Quellen in dicken Wasserstrahlen, sodaß es immerfort plätscherte, und dicht daneben saß ein alter König mit der goldenen Krone auf dem weißen Haupte; das war König Hroar bei den Quellen, dicht bei der Stadt Roeskilde, *) wie man sie jetzt nennt. Und über den Abhang hin
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*) Corsör, an dem großen Belt, früher, vor Einrichtung der Dampfschifffahrt, als die Reisenden oft lange auf günstigen Wind warten mußten, die langweiligste der Städte genannt und durch ein witziges Vaudeville Heiberg's zu dem dänischen Schilda gestempelt. Hier ist der Dichter Baggesen geboren.
in die alte Kirche gingen alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit der goldenen Krone; und die Orgel spielte und die Quellen rieselten.
Klein Tukchen sah Alles, hörte Alles. "Vergiß die Stände nicht!" sagte König Hroar.
Auf einmal war Alles wieder fort; ja, wohin? Es war ihm gerade, als ob man ein Blatt in einem Buch umwende.
Und nun stand da eine alte Bauerfrau, die kam aus Soröe, **) wo das Gras auf dem Markte wächst; sie hatte eine graue Leinwandschürze über Kopf und Rücken hängen, die war so naß - es mußte wohl geregnet haben.
"Ja, das hat es!" sagte sie, und nun wußte sie viel Hübsches aus Holberg's Komödien und von Waldemar und Absalon.
Aber auf einmal kroch sie zusammen und wackelte mit dem Kopfe, als ob sie springen wollte. "Koax!" sagte sie, "es ist naß, es ist naß; es ist so behaglich todtenstill in Soröe!" Nun war sie mit einem Male ein Frosch: "Koax!" und dann war sie wieder die alte Frau.
"Man muß sich nach dem Wetter kleiden," sagte sie. "Es ist naß, es ist naß! Meine Stadt ist gerade wie eine Flasche; beim Pfropfen kommt man hinein, beim Pfropfen muß man wieder heraus! Früher hatte ich die herrlichsten Fische und jetzt habe ich frische, rothwangige Buben auf dem Boden der Flasche, die lernen Weisheit: Hebräisch, Griechisch! Koax!"
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*) Roeskilde (Roesquelle, fälschlich Rothschild genannt), einst Dänemarks Hauptstadt. Die Stadt hat ihren Namen von dem König Hroar und den vielen Quellen der Umgegend. In dem schönen Dom liegen die meisten Könige und Königinnen von Dänemark begraben. In Roeskilde versammeln sich auch die dänischen Stände.
**) Soröe, ein sehr stilles Städtchen in schöner Lage, umgeben von Wäldern und Seen. Dänemarks Moliére, Holberg, stiftete hier eine Ritterakademie. Die Dichter Hauch und Ingemann waren hier als Professoren angestellt, Letzterer lebt noch dort.
Das klang gerade so, wie die Frösche schreien oder als ob man mit großen Stiefeln auf dem Moor ginge: immer derselbe Ton, so einförmig und so ermüdend, daß Kleintukchen ordentlich einschlief, was ihm auch gar nicht schaden konnte.
Aber selbst in diesem Schlafe kam ein Traum oder was es sonst war. Seine kleine Schwester Gustave mit den blauen Augen und dem blonden, lockigen Haare war auf einmal ein großes, schönes Mädchen, und ohne daß sie Flügel hatte, konnte sie doch fliegen; und nun flogen sie über Seeland, über die grünen Wälder und die blauen Seen.
"Hörst Du den Hahn krähen, Kleintukchen? Kikeliki! Die Hähne fliegen aus Kjöge auf! Du bekommst einen Hühnerhof, so groß! so groß! Du wirst weder Hunger noch Noth leiden! Und den Vogel wirst Du abschießen, wie man sagt; Du wirst ein reicher und glücklicher Mann werden. Dein Haus wird sich erheben wie König Waldemar's Thurm und reich geschmückt sein mit marmornen Bildsäulen, wie die aus Prästöe. Du verstehst mich wohl. Dein Name soll mit Ruhm um die ganze Erde ziehen, sowie das Schiff, das von Corsör auslaufen sollte, und in Roeskilde - - ""vergiß die Stände nicht!"" sagte König Hroar - da wirst Du gut und klug sprechen, Kleintukchen; und wenn Du dann zuletzt in Dein Grab kommst, so sollst Du so ruhig schlafen - -"
"Als ob ich in Soröe läge!" sagte Tuk, und da wachte er auf.
Es war heller Morgen, und er konnte sich gar nicht mehr auf seinen Traum besinnen. Das war aber auch gar nicht nöthig, denn man darf nicht wissen, was einmal kommen wird.
Und nun sprang er geschwind aus seinem Bett und las in seinem Buche, und da wußte er mit einem Male seine ganze Lection.
Und die alte Waschfrau steckte den Kopf in die Thüre, nickte ihm freundlich zu und sagte:
"Schönen Dank, Du gutes Kind, für Deine Hülfe! Der liebe Herrgott möge Dir Deinen schönsten Traum erfüllen!"
Kleintukchen wußte nun gar nicht, was ihm geträumt hatte, aber - der liebe Herrgott wußte es!

Hans Christian Andersen (1805-1875)