Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Der Engel
"Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das todte Kind auf seine Arme, breitet die großen weißen Flügel aus, fliegt hin über alle die Plätze, welche das Kind lieb gehabt hat, und pflückt eine ganze Hand voll Blumen, welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner, als auf der Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber derjenigen Blume, welche ihm die liebste ist, gibt er einen Kuß, und dann bekommt sie eine Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen!"
Sieh, alles Dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte gleichwie im Traume; und sie fuhren hin über die Stätten in der Heimath, wo der Kleine gespielt hatte, und sie kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.
"Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?" fragte der Engel.
Und da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm zerbrochen, sodaß alle Zweige, voll von großen, halbaufgesprungenen Knospen rund herum, vertrocknet hingen.
"Der arme Rosenstock!" sagte das Kind. "Nimm ihn, damit er dort oben bei Gott zum Blühen kommen kann!"
Und der Engel nahm ihn, küßte das Kind dafür, und der Kleine öffnete halb seine Augen. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen.
"Nun haben wir Blumen!" sagte das Kind, und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht, es war ganz stille; sie blieben in der großen Stadt, sie schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo ganze Haufen von Stroh, Asche und Auskehricht lagen: es war Umziehetag gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gypsstücke, Lumpen und alte Hüte, was Alles nicht gut aussah.
Und der Engel zeigte in all' diesem Wirrwar hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der herausgefallen war und von den Wurzeln einer großen vertrockneten Feldblume, welche nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.
"Die nehmen wir mit!" sagte der Engel. "Ich werde Dir erzählen, warum, während wir weiter fliegen!"
Und so flogen sie, und der Engel erzählte:
"Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein armer, kranker Knabe; von Kindheit an war er immer bettlägerig gewesen; wenn er am gesundesten war, konnte er auf Krücken in der kleinen Stube ein paar Mal auf und nieder gehen; das war Alles. An einigen Tagen im Sommer drangen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis auf die Flur des Kellers; und wenn dann der arme Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ, und das rothe Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Antlitz hielt, dann hieß es: ""Ja, heute ist er ausgewesen!"" - Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühlingsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, und den hielt er über seinem Haupte und träumte dann, unter Buchen zu sein, wo die Sonne schiene und Vögel sängen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bett an das Fenster gestellt. Und die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt: sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen. Sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und pflegte sie, und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; und die Blume selbst verwuchs in seine Träume, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute sie das Auge; zu ihr wendete er sich im Tode, als der Herr ihn rief. - Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen; ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt; sie wurde deshalb beim Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die arme vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr Freude gewährt, als die reichste Blume im Garten einer Königin!"
"Aber woher weißt Du das Alles?" fragte das Kind, welches de Engel gen Himmel trug.
"Ich weiß es!" sagte der Engel. "Denn ich war selbst der kleine kranke Knabe, welcher auf Krücken ging! Meine Blume kenne ich wohl!"
Und das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein; und in demselben Augenblicke befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott drückte das todte Kind an sein Herz, und da bekam es Flügel, wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen an sein Herz; aber die arme verdorrte Feldblume küßte er; und sie erhielt eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten: einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen, und immer weiter und weiter, in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie: kleine und große, das gute, gesegnete Kind und die arme Feldblume, welche verdorrt dagelegen hatte, hingeworfen in den Kehricht, unter dem Unrathe des Umziehetages, in der schmalen, dunkeln Gasse.
Hans Christian Andersen (1805-1875)