Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862

Die Galoschen des Glücks


I. Ein Anfang

In einem Hause in Kopenhagen, nicht weit vom Königs-Neumarkt, hatte man eine Gesellschaft, eine sehr große Gesellschaft versammelt, um von den Eingeladenen wieder Einladungen zu erhalten. Die eine Hälfte der Gesellschaft saß schon an den Spieltischen, die andere Hälfte erwartete das Resultat von dem "Was wollen wir denn nun anfangen?" der Wirthin. So weit war man, und die Unterhaltung fing an, einigermaßen in Gang zu kommen. Unter Anderm fiel auch die Rede auf das Mittelalter; Einzelne hielten es für weit interessanter als unsere Zeit; ja, Justizrath Knap vertheidigte diese Meinung so eifrig, daß die Frau vom Hause sogleich zu seiner Partei übertrat; und Beide eiferten nun gegen Oersted's Abhandlung im Almanach über alte und neue Zeiten, worin unserm Zeitalter im Wesentlichen der Vorzug gegeben wird. Der Justizrath betrachtete die Zeit des Dänenkönigs Hans*) als die edelste und glücklichste.
Während dies der Stoff der Unterhaltung war und dieselbe nur augenblicklich durch die Ankunft einer Zeitung unterbrochen wurde, welche nichts enthielt, was zu lesen der Mühe werth gewesen wäre, wollen wir uns in das Vorzimmer hinausbegeben, wo die Mäntel, Stöcke und Galoschen Platz gefunden hatten. Hier saßen zwei Mädchen, ein junges und ein altes; man konnte glauben, sie seien gekommen, um ihre weibliche Herrschaft nach Hause zu geleiten; betrachtete man sie aber etwas genauer, so begriff man bald, daß sie keine gewöhnlichen Dienstboten waren: dazu waren die Formen gar zu edel, die Haut zu fein und der Schnitt der Kleider zu kühn. Es waren zwei Feen. Die Jüngste war zwar nicht das Glück selbst, aber ein Kammermädchen einer seiner Kammerfrauen, welche die geringeren Gaben des Glücks umhertragen. Die Aeltere sah etwas finster aus; es war die Sorge; sie geht immer selbst, in höchsteigner Person ihre Geschäfte zu besorgen; dann weiß sie, daß selbige gut ausgeführt werden.
Sie erzählten einander, wo sie an diesem Tage gewesen waren. Die Abgesandte des Glücks hatte nur einige unbedeutende Handlungen ausgeführt, wie einen neuen Hut vom Regenguß zu erretten, einem ehrlichen Mann einen Gruß von einer vornehmen Null zu verschaffen u. s. w.; aber was ihr noch übrig blieb, war etwas ganz Ungewöhnliches.
"Ich kann auch erzählen," sagte sie, "daß heute mein Ge-
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*) Gestorben 1513. Mit Christine, Tochter des Kurfürsten Ernst von Sachsen, vermählt.

burtstag ist, und zur Ehre desselben sind mir ein Paar Galoschen anvertraut, die ich der Menschheit bringen soll. Diese Galoschen haben die Eigenschaft, daß ein Jeder, der sie anzieht, augenblicklich an die Stelle und in die Zeit versetzt wird, wo er am liebsten sein will; ein jeder Wunsch in Bezug auf Zeit, Ort oder Existenz wird sogleich erfüllt, und der Mensch so endlich einmal glücklich hienieden!"
"Ja, das magst Du glauben!" sagte die Sorge. "Er wird sehr unglücklich und segnet den Augenblick, wo er die Galoschen wieder los wird!"
"Wo denkst Du hin?" sagte die Andere. "Nun stelle ich sie an die Thüre; Einer vergreift sich und wird der Glückliche!"
Sieh, das war das Zwiegespräch.

II. Wie es dem Justizrat erging

Es war spät; Justizrath Knap, in die Zeit des Königs Hans vertieft, wollte heimkehren, und das Schicksal lenkte es so, daß er anstatt seiner Galoschen die des Glücks anzog und nun auf die Oststraße hinaustrat. Aber er war durch die Zauberkraft der Galoschen in die Zeit des Königs Hans zurückversetzt, und deshalb setzte er den Fuß geradezu in Koth und Morast auf die Straße, weil es zu jener Zeit noch kein Steinpflaster gab.
"Es ist ja schrecklich, wie schmuzig es hier ist!" sagte der Justizrath. "Das ganze Trottoir ist fort und alle Laternen sind ausgelöscht!"
Der Mond stand noch nicht hoch genug und die Luft war überdies ziemlich dick, sodaß alle Gegenstände rings umher bei dieser Dunkelheit in einander verschwammen. An der nächsten Ecke hing inzwischen eine Laterne vor einem Madonnenbilde, aber die Beleuchtung war so gut wie keine; er bemerkte sie erst, als er gerade darunter stand, und seine Augen fielen auf das gemalte Kind mit der Mutter.
"Das ist vermuthlich," dachte er, "ein Kunstkabinet, wo man vergessen hat, das Schild einzunehmen."
Ein paar Menschen in der Tracht des Zeitalters gingen an ihm vorbei.
"Wie sahen die doch aus! Sie kamen wohl von einer Maskerade?"
Plötzlich ertönten Trommeln und Pfeifen; Fackeln leuchteten hell. Der Justizrath stutzte und sah nun einen sonderbaren Zug vorbeiziehen. Zuerst kam ein ganzer Trupp Trommelschläger, die ihre Instrumente recht artig bearbeiteten; ihnen folgten Trabanten mit Bogen und Armbrüsten. Der Vornehmste im Zuge war ein geistlicher Herr. Erstaunt fragte der Justizrath, was das zu bedeuten habe und wer der Mann sei?
"Das ist der Bischof von Seeland!"
"Mein Gott, was fällt dem Bischof ein?" seufzte der Justizrath und schüttelte mit dem Kopf. Der Bischof konnte es doch unmöglich sein! Darüber grübelnd, und ohne zur Rechten oder Linken zu sehen, ging der Justizrath durch die Oststraße und über den Hohenbrückenplatz. Die Brücke, die nach dem Schloßplatze führt, war nicht zu finden; er wurde das Ufer eines seichten Wassers gewahr und stieß endlich hier auf zwei Leute, die in einem Boote waren.
"Will der Herr nach dem Holm übergesetzt werden?" fragten sie.
"Nach dem Holm hinüber?" fragte der Justizrath, der ja nicht wußte, in welchem Zeitalter er sich befand. "Ich will nach Christianshafen in die kleine Torfstraße!"
Die Leute sahen ihn an.
"Sagt mir nur, wo die Brücke ist!" sagte er. "Es ist schändlich, daß hier keine Laternen angezündet sind; auch ist ein Schmuz, als ginge man in einem Sumpf!"
Je länger er mit den Bootsmännern sprach, desto unverständlicher waren sie ihm.
"Ich verstehe Euer Bornholmisch nicht!" sagte er zuletzt ärgerlich und kehrte ihnen den Rücken. Die Brücke konnte er nicht finden, ein Geländer war auch nicht da. "Es ist ein Skandal, wie es hier aussieht!" sagte er. Nie hatte er sein Zeitalter elender gefunden, als an diesem Abend. "Ich glaube, ich werde am besten thun, eine Droschke zu nehmen," dachte er. Aber wo waren die Droschken? Keine ließ sich sehen. "Ich werde nach dem Königs-Neumarkt zurückgehen müssen, dort halten wohl Wagen, sonst komme ich nie nach Christianshafen hinaus."
Nun ging er nach der Oststraße und war fast hindurch gekommen, als der Mond hervorbrach.
"Mein Gott, was ist das für ein Gerüst, das man hier errichtet hat!" rief er aus, als er das Ostthor erblickte, welches zu jener Zeit am Ende der Oststraße stand.
Inzwischen fand er doch einen Durchgang offen, und durch diesen kam er nach unserm Neumarkt hinaus; aber das war ein großer Wiesengrund; einzelne Büsche ragten hervor und quer durch die Wiese zog sich ein breiter Canal oder Strom. Einige erbärmliche Holzbuden für holländische Schiffer lagen auf dem entgegengesetzten Ufer.
"Entweder erblicke ich eine fata morgana, oder ich bin betrunken!" jammerte der Justizrath. "Was ist das nur? Was ist das nur?"
Er kehrte wieder um, in der festen Ueberzeugung, daß er krank sei. Indem er in die Straße zurückkam, betrachtete er die Häuser etwas genauer, die meisten waren blos von Fachwerk und viele hatten nur ein Strohdach.
"Nein, mir ist gar nicht wohl!" seufzte er. "Und ich trank doch nur ein Glas Punsch! Aber ich kann ihn nicht vertragen, und es war auch ganz und gar verkehrt, uns Punsch und warmen Lachs zu geben; das werde ich der Frau Agentin auch sagen! Ob ich wohl wieder zurückkehre und sage, wie mir zu Muthe ist? Aber das steht so lächerlich aus, und es ist die Frage, ob sie noch auf sind."
Er suchte nach dem Hause, aber es war gar nicht zu finden.
"Es ist doch erschrecklich: ich kann die Oststraße nicht wieder erkennen! Nicht ein Laden ist da; alte, elende, verfallene Häuser erblicke ich, als ob ich in Roeskilde oder Ringstedt wäre. Ach, ich bin krank! Es nützt nichts, sich zu geniren. Aber wo in aller Welt ist des Agenten Haus? Es ist nicht mehr dasselbe, aber dort drinnen sind noch Leute auf; ach, ich bin sicher krank!"
Nun stieß er auf eine halb offene Thüre, wo das Licht durch eine Spalte fiel. Es war eine Herberge jener Zeit, eine Art von Bierhaus. Die Stube hatte das Ansehen einer holländischen Diele; eine Anzahl Leute, bestehend aus Schiffern, Kopenhagener Bürgern und ein paar Gelehrten, saßen hier im tiefsten Gespräch bei ihren Krügen und beachteten den Eintretenden nur wenig.
"Um Entschuldigung," sagte der Justizrath zur Wirthin, "mir ist sehr unwohl geworden; wollen Sie mir nicht eine Droschke nach Christianshafen hinaus besorgen lassen?"
Die Frau sah ihn an und schüttelte mit dem Kopfe; darauf redete sie ihn in deutscher Sprache an. Der Justizrath nahm an, daß sie der dänischen Zunge nicht mächtig sei, und brachte deshalb seinen Wunsch auf Deutsch vor; dies, im Verein mit seiner Kleidung, bestärkte die Frau darin, daß er ein Ausländer sei; daß er sich unwohl befinde, begriff sie bald und brachte ihm deshalb einen Krug Wasser; freilich hatte es etwas vom Seewasser, wiewohl es draußen aus dem Brunnen geschöpft war.
Der Justizrath stützte seinen Kopf auf die Hand, holte tief Athem und grübelte über alles Seltsame rings um ihn her nach.
"Ist das die heutige Nummer vom <<Tag?>>*) fragte er ganz
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*) Eine Abendzeitung in Kopenhagen

mechanisch, indem er sah, wie die Frau ein großes Stück Papier weglegte.
Sie verstand nicht, was er damit meinte, reichte ihm aber das Blatt; es war ein Holzschnitt, welcher eine Lufterscheinung darstellte, die in der Stadt Köln gesehen worden war.
"Das ist sehr alt!" sagte der Justizrath und wurde durch diese Antiquität ganz heiter. "Wie sind Sie denn zu diesem seltenen Blatte gelangt? Das ist höchst interessant, obgleich das Ganze eine Fabel ist! Man erklärt dergleichen Lufterscheinungen dadurch, daß es Nordlichter sind, die man erblickt hat; wahrscheinlich entstehen sie durch die Elektricität!"
Die, welche ihm zunächst saßen und seine Rede hörten, sahen ihn erstaunt an, und Einer von ihnen erhob sich, nahm ehrerbietig den Hut ab und sagte mit der ernsthaftesten Miene: "Ihr seid sicher ein höchst gelehrter Mann, Monsieur!"
"O nein!" erwiderte der Justizrath; "ich kann nur von dem Einen und dem Andern mitsprechen, was man ja verstehen muß!"
"Modestia ist eine schöne Tugend!" sagte der Mann. "Uebrigens muß ich zu Eurer Rede sagen: mihi secus videtur; doch suspendire ich hier gern mein Iudicium!"
"Darf ich wohl fragen, mit wem ich das Vergnügen habe zu sprechen?" erwiderte der Justizrath.
"Ich bin Baccalaureus der heiligen Schrift," sagte der Mann.
Diese Antwort war dem Justizrath genügend; der Titel entsprach hier der Tracht. Das ist sicher, dachte er, ein alter Dorfschulmeister, ein origineller Patron, wie man sie noch zuweilen oben in Jütland treffen kann.
"Hier ist zwar kein locus docendi," begann der Mann, "doch bitte ich, daß Ihr Euch bemüht, zu sprechen! Ihr seid sicher in den Alten sehr belesen?"
"O ja!" antwortete der Justizrath; "ich lese gern alte nützliche Schriften, habe aber auch die neuern recht gern, mit Ausnahme der <<Alltagsgeschichten>>, deren wir in der Wirklichkeit genug haben!"
"Alltagsgeschichten?" fragte unser Baccalaureus.
"Ja, ich meine die neuen Romane, die man jetzt hat."
"O," lächelte der Mann; "sie enthalten doch vielen Witz und werden bei Hofe gelesen; der König liebt besonders den Roman von Herrn Iffven und Gaudian, welcher vom König Artus und seinen Rittern der Tafelrunde handelt. Er hat mit seinen hohen Herren darüber gescherzt."
"Ja, den hab ich noch nicht gelesen!" sagte der Justizrath; "das muß ein ganz neuer sein, den Heiberg herausgegeben hat!"
"Nein," erwiderte der Mann, "er ist nicht bei Heiberg, sondern bei Godfred von Gehmen*) herausgekommen!"
"So, ist das der Verfasser?" sagte der Justizrath. "Das ist ein sehr alter Name; so hieß ja wohl der erste Buchdrucker, der in Dänemark gewesen ist?"
"Ja, das ist unser erster Buchdrucker!" sagte der Mann.
So weit ging es ganz gut; nun sprach einer der Bürgersleute von der schweren Pestilenz, die vor ein paar Jahren grassirt hatte, und meinte die im Jahre 1484. Der Justizrath nahm an, daß es die Cholera sei, von der die Rede war; und so ging die Unterhaltung ganz gut. Der Freibeuterkrieg von 1490 lag so nahe, daß er berührt werden mußte; die englischen Freibeuter hätten Schiffe auf der Rhede genommen, sagten sie; und der Justizrath, der sich in die Begebenheiten von 1801 recht hineingelebt hatte, stimmte vortrefflich gegen die Engländer mit ein. Das übrige Gespräch hingegen ging nicht so gut; jeden Augenblick verfiel man gegenseitig
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*) Erster Buchdrucker und Verleger in Dänemark unter König Hans.

in den Leichenbitterstyl; der gute Baccalaureus war gar zu unwissend, und die einfachsten Aeußerungen des Justizraths klangen ihm wieder zu dreist und zu phantastisch. Sie sahen einander an, und wurde es gar zu arg, dann sprach der Baccalaureus Latein, in der Hoffnung, besser verstanden zu werden; aber es half doch nichts.
"Wie geht es Ihnen?" fragte die Wirthin und zog den Justizrath beim Aermel. Nun kam seine Besinnung zurück; im Laufe der Unterhaltung hatte er Alles rein vergessen, was vorgegangen war.
"Mein Gott, wo bin ich?" sagte er, und es schwindelte ihm, wie er daran dachte.
"Claret wollen wir trinken! Meth und Bremerbier!" rief einer der Gäste. "Und Ihr sollt mittrinken!"
Zwei Mädchen kamen herein; die eine hatte eine zweifarbige Haube*) auf. Sie schenkten ein und verneigten sich; dem Justizrath rieselte es eiskalt über den Rücken hinab.
"Was ist denn das! Was ist denn das!" sagte er. Aber er mußte mit ihnen trinken; sie bemächtigten sich ganz artig des guten Mannes; er war höchst verzweifelt, und als der Eine sagte, daß er betrunken sei, zweifelte er durchaus nicht an des Mannes Wort, sondern bat sie nur, ihm eine Droschke zu verschaffen. Nun glaubten sie, er spräche moskowitisch.
Nie war er in so roher und gemeiner Gesellschaft gewesen. "Man sollte glauben, das Land wäre zum Heidenthume zurückgekehrt!" meinte er. "Das ist der schrecklichste Augenblick in meinem Leben!" Aber zu gleicher Zeit kam ihm der Gedanke, sich unter den Tisch hinabzubücken und dann nach der Thüre zu kriechen. Das that er auch, aber indem er beim Ausgange war, bemerkten die
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*) Nach König Hans' Gesetz mußten Frauenzimmer von zweideutigem Ruf solche tragen.

Andern, was er vorhatte; sie ergriffen ihn bei den Füßen, und nun gingen die Galoschen zu seinem guten Glücke ab, und - mit diesen schwand die ganze Bezauberung.
Der Justizrath sah ganz deutlich vor sich eine Laterne brennen, und hinter dieser ein großes Gebäude; Alles sah bekannt und prächtig aus. Es war die Oststraße, wie wir sie kennen; er lag mit den Beinen einer Pforte zugekehrt, und gerade gegenüber saß der Wächter und schlief.
"Du mein Schöpfer, habe ich hier auf der Straße gelegen und geträumt!" sagte er. "Ja, das ist die Oststraße! Wie prächtig hell und bunt! Es ist doch erschrecklich wie das Glas Punsch auf mich gewirkt haben muß!"
Zwei Minuten später saß er in einer Droschke, die mit ihm nach Christianshafen fuhr. Er gedachte der Angst und Noth, die er ausgestanden, und pries von Herzen die glückliche Wirklichkeit, unsere Zeit, die mit allen ihren Mängeln doch weit besser sei, als die, in der er vor Kurzem gewesen war.

III. Des Wächters Abenteuer

"Da liegen ja wahrlich ein Paar Galoschen!" sagte der Wächter. "Die gehören sicher dem Lieutenant, der dort oben wohnt. Sie liegen gerade neben der Thür!"
Gern hätte der ehrliche Mann geklingelt und sie abgeliefert, denn oben war noch Licht; aber er wollte nicht die übrigen Leute im Hause wecken, und deshalb ließ er es sein.
"Das muß recht warm sein, ein Paar solcher Dinger anzuhaben!" sagte er. "Sie sind so weich im Leder." Sie paßten gut an seine Füße. "Wie ist es doch drollig in der Welt! Nun könnte er sich in sein warmes Bett legen, doch sieh, ob er es thut! Da geht er im Zimmer auf und nieder! Das ist ein glücklicher Mensch! Er hat weder eine Frau, noch Kinder; jeden Abend ist er in Gesellschaft. O, wäre ich doch er; ja, dann wäre ich ein glücklicher Mann!"
Indem er den Wunsch aussprach, wirkten die Galoschen, die er angezogen hatte: der Wächter ging in des Lieutenants Sein und Wesen über. Da stand er oben im Zimmer und hielt ein kleines rosenrothes Papier zwischen den Fingern, worauf ein Gedicht stand, ein Gedicht des Herrn Lieutenants selbst. Denn wer hat in seinem Leben nicht einmal einen lyrischen Augenblick gehabt, und schreibt man dann den Gedanken nieder, so hat man Poesie. Hier stand geschrieben:

"O, wär' ich reich!"
"O, wär' ich reich!" so wünscht' ich mir schon oft,
Als ich kaum ellengroß auf Viel gehofft.
O, wär' ich reich! so würd' ich Offizier,
Mit Säbel, Uniform und Bandelier.
Die Zeit kam auch, und ich ward Offizier,
Doch nun und nimmer ward ich reich, ich Armer;
Hilf mir, Erbarmer!

Einst saß ich Abends lebensfroh und jung,
Ein kleines Mädchen küßte meinen Mund,
Denn ich war reich an Märchenpoesie,
An Gold dagegen, ach! so arm wie nie -;
Das Kind nur wollte diese Poesie;
Da war ich reich, doch nicht an Gold, ich Armer;
Du weißt's, Erbarmer!

"O, wär ich reich!" so tönt zu Gott mein Fleh'n,
Das Kind hab' ich zur Jungfrau reifen seh'n;
Sie ist so klug, so hübsch, so seelengut:
O, wüßte sie, was mir im Herzen ruht:
Das große Märchen - - wäre sie mir gut!
Doch bin zum Schweigen ich verdammt, ich Armer
Du willst's, Erbarmer!

O, wär' ich reich an Trost und Ruhe hier,
Dann käme all' mein Leid nicht auf's Papier.
Verstehst Du mich, Du, der ich mich geweiht:
So lies dies Blatt aus meiner Jugendzeit,
Ein dunkles Märchen, dunkler Nacht geweiht.
Nur finstre Zukunft seh' ich; ach, ich Armer!
Dich segne der Erbarmer!

Ja, solche Gedichte schreibt man, wenn man verliebt ist, aber ein besonnener Mann läßt sie nicht drucken. Lieutenant, Liebe, Mangel: das ist ein Dreieck oder ebenso gut die Hälfte des zerbrochenen Würfels des Glücks. Das fühlte der Lieutenant recht lebendig, und deshalb legte er das Haupt an die Fensterrahmen und seufzte ganz tief.
"Der arme Wächter draußen auf der Straße ist weit glücklicher, als ich! Er kennt nicht, was ich Mangel nenne! Er hat eine Heimath, Frau und Kinder, die bei seiner Trauer weinen, sich bei seiner Lust freuen! O, ich wäre glücklicher als ich bin, könnte ich in sein Wesen und Sein übergehen, mit seinen Forderungen und Hoffnungen durch das Leben wandeln! Ja, er ist glücklicher als ich!"
In demselben Augenblick war der Wächter wieder Wächter, denn durch die Galoschen des Glücks war er in das Wesen und Sein des Lieutenants übergegangen; aber da, wie wir sehen, fühlte er sich noch weit weniger zufrieden und zog gerade Das vor, was er vor Kurzem verworfen hatte. Also der Wächter war wieder Wächter.
"Das war ein häßlicher Traum," sagte er, "aber drollig genug. Es war mir, als ob ich der Lieutenant dort oben sei, und das war durchaus kein Vergnügen. Ich entbehre die Frau und die Buben, die bereit sind, mich halb todt zu küssen!"
Er saß wieder und nickte; der Traum wollte ihm nicht recht aus den Gedanken; die Galoschen hatte er noch an den Füßen. Eine Sternschnuppe glitt über den Himmel.
"Da ging Die!" sagte er. "Dessenungeachtet sind dort genug! Ich hätte wohl Lust, die Dinger etwas näher zu betrachten, besonders den Mond, denn der kommt Einem doch nicht unter den Händen fort. Wenn wir sterben, sagte der Student, für den meine Frau wäscht, fliegen wir von dem Einen zu dem Andern. Das ist eine Lüge, würde aber recht hübsch sein. Könnte ich doch einen kleinen Sprung da hinauf machen, dann möchte der Körper gern hier auf der Treppe liegen bleiben!"
Es gibt nun gewisse Dinge in der Welt, die man auszusprechen sehr vorsichtig sein muß; aber doppelt vorsichtig sein muß, wenn man die Galoschen des Glücks an den Füßen hat. Höre nur, wie es dem Wächter erging.
Was uns betrifft, so kennen wir fast Alle die Schnelligkeit der Dampfbeförderung; wir haben sie entweder auf Eisenbahnen oder mit Schiffen über das Meer hin erprobt. Doch dieser Flug ist wie die Wanderung des Faulthiers oder der Marsch der Schnecke im Verhältniß zu der Schnelligkeit, die das Licht hat. Das fliegt neunzehn Millionen Mal schneller als der beste Wettrenner, und doch ist die Elektricität noch schneller. Der Tod ist ein elektrischer Stoß, den wir in das Herz erhalten; auf den Flügeln der Elektricität fliegt die befreite Seele. Acht Minuten und wenige Secunden gebraucht das Sonnenlicht zu einer Reise von mehr als zwanzig Millionen Meilen; mit der Schnellpost der Elektricität bedarf die Seele noch weniger Minuten, um denselben Flug zu vollbringen. Der Raum zwischen den Weltkörpern ist für sie nicht größer, als es für uns in einer und derselben Stadt die Entfernungen zwischen den Häusern unserer Freunde sind, selbst wenn diese ziemlich nahe bei einander liegen. Inzwischen kostet dieser elektrische Herzensstoß uns den Gebrauch des Körpers hienieden, im Fall wir nicht gerade, wie der Wächter, die Galoschen des Glücks anhaben.
In wenigen Secunden hatte der Wächter die 52000 Meilen bis zum Monde zurückgelegt, welcher, wie man weiß, von einem weit leichtern Stoff, als unsere Erde, geschaffen und weich wie frisch gefallener Schnee ist, wie wir sagen würden. Er befand sich auf einem der unzähligen Ringgebirge, die wir aus Dr. Mädler's großer Karte des Mondes kennen. Innerhalb ging es in einen Kessel, ungefähr eine halbe Meile senkrecht hinab. Dort unten lag eine Stadt, von deren Ansehen wir nur einen Begriff bekommen können, wenn wir Eiweiß in ein Glas Wasser ausschlagen; die Materie hier war ebenso weich und bildete ähnliche Thürme mit Kuppeln und segelförmigen Altanen, durchsichtig und in der dünnen Luft schwimmend. Unsere Erde schwebte wie eine große dunkelrothe Kugel über seinem Kopfe.
Er wurde gleich eine Menge Geschöpfe gewahr, die sicherlich das waren, was wir "Menschen" nennen; aber sie sahen ganz anders aus als wir. Eine weit reichere Phantasie, als die Pseudo-Herschel's, hatte sie geschaffen. Würden sie in Reihe und Glied aufgestellt und so abgemalt, so würde man sagen: Das ist eine schöne Arabeske! Sie hatten auch eine Sprache; aber es kann ja Niemand verlangen, daß die Seele des Wächters die verstehen sollte. Dessenungeachtet konnte sie es, denn unsere Seele hat weit größere Fähigkeiten, als wir glauben. Zeigt sie uns nicht in unsern Träumen ihr erstaunliches dramatisches Talent? Ein jeder Bekannter tritt da sprechend auf, so völlig im Charakter und mit demselben Organ, in einem Grade, daß Niemand von uns wachend es nachahmen kann. Wie weiß sie nicht uns Personen zurückzurufen, an die wir in vielen Jahren nicht gedacht haben; plötzlich treten sie in unserer Seele so lebendig, bis auf die feinsten Züge, hervor. Im Grunde sieht es mit unserm Seelengedächtniß ängstlich aus; jede Sünde, jeden bösen Gedanken wird sie ja wiederholen können; dann wird es darauf ankommen, ob wir Rechenschaft von jedem ungebührlichen Worte im Herzen und auf der Lippe werden zu geben im Stande sein.
Die Seele des Wächters verstand demgemäß die Sprache der Mondbewohner sehr gut. Sie disputirten über unsere Erde und bezweifelten, daß sie bewohnt sein könne; die Luft müßte dort zu dick sein, als daß ein vernünftiges Mondgeschöpf darin leben könnte. Sie hielten den Mond allein für bewohnt; er sei der eigentliche Weltkörper, wo die alten Weltbewohner lebten.
Sie sprachen auch von Politik; doch wir begeben uns nach der Oststraße hinab, und sehen da, wie es dem Körper des Wächters ergeht.
Leblos saß er auf der Treppe; der Morgenstern war ihm aus der Hand gefallen und die Augen blickten zum Monde empor, auf dem die ehrliche Seele herumwandelte.
"Was ist die Uhr, Wächter?" fragte ein Vorübergehender. Wer aber nicht antwortete, das war der Wächter. Da knipste der Mann ihn ganz sacht an die Nase, und nun verlor er das Gleichgewicht. Da lag der Körper, so lang er war: der Mensch war todt. Alle seine Kameraden erschraken sehr; todt war und blieb er; es wurde gemeldet und es wurde besprochen, und in der Morgenstunde trug man den Körper nach dem Hospitale hinaus.
Das konnte nun einen ganz hübschen Spaß für die Seele abgeben, im Falle sie zurückkehrte und aller Wahrscheinlichkeit nach den Körper auf der Oststraße suchen, aber nicht finden würde. Wahrscheinlich würde sie dann erst auf die Polizei, später nach dem Adreßcomptoir laufen, damit von dort aus Nachfrage unter den weggekommenen Sachen darüber angestellt werden könnte, und dann nach dem Hospitale hinauswandern. Doch wir können uns damit trösten, daß die Seele am klügsten ist, wenn sie auf ihre eigene Hand agirt: nur der Körper macht sie dumm.
Wie gesagt, des Wächters Körper kam nach dem Hospitale, wurde dort in die Reinigungsstube gebracht, und das Erste, was man hier that, war natürlicherweise, daß man die Galoschen abnahm, und da mußte die Seele zurück. Sie nahm sogleich die Richtung gerade nach dem Körper zu, und ein paar Secunden darauf war wieder Leben im Manne. Er versicherte, daß es die schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen wäre; nicht für acht Groschen wolle er solche Empfindungen wieder haben; aber nun war es ja überstanden.
An demselben Tage wurde er wieder entlassen, aber die Galoschen blieben in dem Hospital.

IV. Ein Hauptmoment. Eine höchst ungewöhnliche Reise

Ein jeder Kopenhagener weiß, wie der Eingang zum Friedrichshospital in Kopenhagen aussieht, aber da wahrscheinlich auch einige Nichtkopenhagener diese kleine Schrift lesen, müssen wir eine kurze Beschreibung davon geben.
Das Hospital ist von der Straße durch ein ziemlich hohes Gitter geschieden, in welchem die dicken Eisenstäbe so weit von einander abstehen, daß, wie man erzählt, sich sehr dünne famuli hindurchgeklemmt und so ihre kleinen Besuche außerhalb abgestattet haben sollen. Der Theil des Körpers, der am schwierigsten hinauszubringen, war der Kopf; hier, wie oft in der Welt, waren also die kleinen Köpfe die glücklichsten. Dieses wird als Einleitung genug sein.
Einer der jungen Volontaire, von dem man nur in körperlicher Hinsicht sagen konnte, daß er einen großen Kopf habe, hatte gerade die Wache an diesem Abend; der Regen strömte herab; doch ungeachtet dieser beiden Hindernisse mußte er hinaus. Nur eine Viertelstunde: das war ja nichts, was dem Pförtner zu vertrauen nöthig sei, meinte er, wenn man durch die Eisenstangen schlüpfen könne. Da lagen die Galoschen, die der Wächter vergessen hatte; es fiel ihm nicht im mindesten ein, daß es die des Glücks seien; sie konnten in diesem Wetter recht gute Dienste leisten; er zog sie an. Nun kam es darauf an, ob er sich würde durchklemmen können; er hatte es bisher nie versucht. Da stand er nun.
"Wollte Gott, ich hätte den Kopf draußen!" sagte er, und sofort, obgleich derselbe sehr dick und groß war, glitt er leicht und glücklich hindurch. Das mußten die Galoschen verstehen; aber nun sollte der Körper mit hinaus; das ging nicht.
"Ich bin zu dick!" sagte er. "Der Kopf, dachte ich, sei das Schlimmste! Ich komme nicht hindurch."
Nun wollte er rasch den Kopf zurückziehen, aber das ging auch nicht. Den Hals konnte er bequem bewegen, aber das war auch Alles. Das erste Gefühl war, daß er ärgerlich wurde, das zweite, daß seine Laune unter Null sank. Die Galoschen des Glücks hatten ihn in diese schreckliche Lage gebracht, und unglücklicherweise fiel es ihm nicht ein, sich frei zu wünschen. Nein, statt zu wünschen, handelte er nur und kam nicht von der Stelle. Der Regen strömte herab; nicht Ein Mensch war auf der Straße zu erblicken; die Pfortenklingel konnte er nicht erreichen: wie sollte er nur loskommen? Er sah voraus, daß er hier bis zur Morgenstunde stehen könne; dann mußte man nach einem Schlosser senden, damit die Eisenstäbe zerfeilt würden. Aber das geht nicht so geschwind; die ganze Armenschule gerade gegenüber würde auf die Beine kommen; das ganze angrenzende Matrosenviertel anlangen, um ihn am Pranger zu sehen, das würde einen Zulauf geben! "Hui! das Blut steigt mir zu Kopfe, sodaß ich wahnsinnig werden muß! - Ja, ich werde verrückt! O, wäre ich doch wieder los, dann ginge es wohl vorüber!"
Das hätte er etwas eher sagen sollen. Augenblicklich, sowie der Gedanke ausgesprochen war, hatte er den Kopf los und stürzte nun hinein, ganz verwirrt über den Schreck, den ihm die Galoschen des Glücks eingejagt hatten.
Hiermit dürfen wir nicht glauben, daß das Ganze vorbei war; nein, es wird noch ärger.
Die Nacht verstrich und der folgende Tag mit; es wurde nicht nach den Galoschen geschickt.
Am Abend sollte eine deklamatorische Vorstellung auf einem Liebhabertheater in einer entlegenen Straße gegeben werden. Das Haus war gepfropft voll; unter den Zuschauern befand sich der Volontair aus dem Hospitale, der sein Abenteuer der vorhergehenden Nacht vergessen zu haben schien. Die Galoschen hatte er an, denn sie waren nicht abgeholt worden, und da es auf der Straße schmutzig war, konnten sie ihm ja gute Dienste leisten. Ein neues Gedicht: "Die Brille der Muhme," wurde recitirt; das war eine Brille, wenn man die aufhatte und vor einer großen Versammlung von Menschen saß, so sahen die Menschen wie Karten aus, und man konnte aus ihnen Alles, was im kommenden Jahre geschehen würde, prophezeien.
Die Idee beschäftigte ihn; er hätte wohl eine solche Brille haben mögen. Wenn man sie richtig gebrauchte, könnte man vielleicht den Leuten gerade in die Herzen hineinschauen; das wäre eigentlich noch interessanter, meinte er, als zu sehen, was im nächsten Jahre geschehen würde, denn das erführe man doch, das Andere dagegen nie. "Ich denke mir nun die ganze Reihe von Herren und Damen auf der ersten Bank: könnte man ihnen gerade in das Herz sehen - ja, da müßte so eine Oeffnung eine Art von Laden sein - wie sollten meine Augen im Laden herumschweifen!
Bei jener Dame dort würde ich sicher einen großen Modehandel finden; bei dieser da ist der Laden leer, doch würde es ihm nicht schaden, gereinigt zu werden. Doch würden auch solide Läden da sein? Ach ja!" seufzte er. "Ich kenne einen, in dem ist Alles solide, aber es ist schon ein Diener darin: das ist das einzige Uebel im ganzen Laden! Aus dem einen und dem andern würde es schallen: Treten Sie gefälligst näher! Ja, könnte ich nur wie ein kleiner, niedlicher Gedanke hineintreten und durch die Herzen schlüpfen!"
Das war das Stichwort für die Galoschen; der ganze Volontair schrumpfte zusammen, und eine höchst ungewöhnliche Reise begann mitten durch die Herzen der vordersten Reihe der Zuschauer. Das erste Herz, durch welches er kam, war das einer Dame; doch glaubte er augenblicklich, im orthopädischen Institute, in dem Zimmer zu sein, wo die Gypsabgüsse der verwachsenen Glieder an den Wänden hängen: nur war hier der Unterschied der, daß sie im Institut geformt werden, wenn der Patient hineinkommt, aber hier im Herzen waren sie geformt und aufbewahrt, nachdem die guten Personen hinausgegangen waren. Es waren Abgüsse von Freundinnen, deren körperliche und geistige Fehler hier aufbewahrt wurden.
Schnell war er in einem andern weiblichen Herzen. Allein dieses erschien ihm wie eine große heilige Kirche; die weiße Taube der Unschuld flatterte über dem Hochaltar. Wie gern wäre er nicht auf die Knie niedergesunken; aber fort mußte er in das nächste Herz hinein. Doch hörte er noch die Orgeltöne, und er selbst kam sich vor, als wäre er ein neuer und besserer Mensch geworden. Er fühlte sich nicht unwürdig, das nächste Heiligthum zu betreten, welches ihm eine ärmliche Dachkammer mit einer kranken Mutter zeigte. Aber durch das offene Fenster strahlte Gottes warme Sonne, herrliche Rosen nickten von dem kleinen Holzkasten auf dem Dache, und zwei himmelblaue Vögel sangen von kindlicher Freude, während die kranke Mutter um Segen für die Tochter flehte.
Nun kroch er auf Händen und Füßen durch einen überfüllten Schlächterladen; da war Fleisch und nur Fleisch, worauf er stieß. Das war das Herz in einem reichen, respectabeln Manne, dessen Name sicher im Adreßbuche steht.
Nun war er in dem Herzen der Gemahlin desselben: das war ein alter, verfallener Taubenschlag. Das Portrait des Mannes wurde als Wettersahne benutzt; diese stand in Verbindung mit den Thüren, und so gingen dieselben auf und zu, sowie sich der Mann drehte.
Darauf kam er in ein Spiegelkabinet, gleich dem, welches wir auf dem Rosenburger Schlosse haben. Aber die Spiegel vergrößerten in einem unglaublichen Grade. Mitten auf dem Fußboden saß, wie ein Dalai-Lama, das unbedeutende Ich der Person, erstaunt, seine eigene Größe zu betrachten.
Hierauf glaubte er sich in eine enge Nadelbüchse voller spitzer Nadeln versetzt zu sehen; er mußte denken: "Das ist sicher das Herz einer alten unverheiratheten Jungfrau!" Aber das war nicht der Fall; es war ein ganz junger Militair mit mehreren Orden, von dem man gerade sagte: Ein Mann von Geist und Herz.
Ganz betäubt kam der arme Volontair aus dem letzten Herzen in der Reihe; er vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen, sondern meinte, daß es seine allzu starke Phantasie sei, die mit ihm durchgegangen wäre.
"Mein Gott!" seufzte er; "ich habe gewiß Anlage, verrückt zu werden! Hier drinnen ist es auch unverzeihlich heiß; das Blut steigt mir zu Kopfe!" Und nun erinnerte er sich der großen Begebenheit des vorhergehenden Abends, wie sein Kopf zwischen den Eisenstäben des Hospitals festgesessen hatte. "Da habe ich es gewiß bekommen!" meinte er. "Ich muß bei Zeiten etwas thun. Ein russisches Bad könnte recht gut sein. Läge ich nur erst auf dem höchsten Brette!"
Und da lag er auf dem obersten Brette im Dampfbade; aber er lag da mit allen Kleidern, mit Stiefeln und Galoschen; die heißen Wassertropfen von der Decke fielen ihm in das Antlitz.
"Hui!" schrie er und fuhr herab, um ein Sturzbad zu nehmen. Der Aufwärter stieß auch einen lauten Schrei aus, wie er den angekleideten Menschen darin erblickte.
Der Volontair hatte indeß so viel Fassung, daß er ihm zuflüsterte: "Es gilt eine Wette!" Aber das Erste, was er that, als er sein eigenes Zimmer erreichte, war, daß er sich ein großes spanisches Fliegenpflaster in den Nacken und eins den Rücken hinab legte, damit die Verrücktheit hinausziehen könne.
Am nächsten Morgen hatte er einen blutigen Rücken: das war es, was er durch die Galoschen des Glücks gewonnen hatte.

V. Die Verwandlung des Copisten

Der Wächter, den wir sicher noch nicht vergessen haben, gedachte inzwischen der Galoschen, die er gefunden und mit nach dem Hospital hinausgebracht hatte. Er holte sie ab, aber da weder der Lieutenant noch sonst Jemand in der Straße sie als die seinigen anerkennen wollte, wurden sie auf die Polizei abgeliefert.
"Es sieht aus, als wären es meine eigenen Galoschen," sagte einer der Herren Copisten, indem er das Findelgut betrachtete und an die Seite der seinigen stellte. "Es gehört mehr als ein Schuhmacherauge dazu, um sie von einander unterscheiden zu können!"
"Herr Copist!" sagte ein Bedienter, der mit einigen Papieren hereintrat.
Der Copist wendete sich um und sprach mit dem Manne; nachdem dies aber geschehen war und er wieder die Galoschen ansah, war er in großer Ungewißheit darüber, ob es die zur Linken oder die zur Rechten wären, die ihm gehörten.
"Es müssen die sein, die naß sind!" dachte er. Allein das war gerade verkehrt gedacht, denn das waren die des Glücks; aber weshalb sollte nicht auch die Polizei fehlen können? Er zog sie an, steckte seine Papiere in die Tasche und nahm einige Manuscripte unter den Arm (zu Hause sollten sie durchgelesen und Concepte davon genommen werden); aber nun war es gerade Sonntag Vormittag und das Wetter gut. "Eine Tour nach Friedrichsberg könnte mir wohlthun," dachte er; und so ging er da hinaus.
Es konnte keinen stillern und solidern Menschen geben, als diesen jungen Mann. Wir gönnen ihm den kleinen Spaziergang von ganzem Herzen; er wird nach dem vielen Sitzen sicher recht wohlthuend auf ihn wirken. Anfangs ging er nur wie ein vegetirender Mensch; deshalb hatten die Galoschen keine Gelegenheit, ihre Zauberkraft zu bethätigen.
In der Allee begegnete er einem Bekannten, einem unserer jüngern Dichter, der ihm erzählte, daß er am folgenden Tage seine Sommerreise beginnen würde.
"Wollen Sie schon wieder fort?" sagte der Copist. "Sie sind doch ein glücklicher, freier Mensch. Sie können fliegen, wohin Sie wollen; wir Andern haben eine Kette am Fuß!"
"Aber sie ist an den Brodbaum befestigt!" erwiderte der Dichter. "Sie brauchen nicht für den morgenden Tag zu sorgen, und werden Sie alt, so bekommen Sie Pension!"
"Sie haben es doch am besten," sagte der Copist. "Es ist ja ein Vergnügen, zu sitzen und zu dichten. Die ganze Welt sagt Ihnen Angenehmes, und dann sind Sie Ihr eigener Herr! Ja, Sie sollten es nur probiren, im Gericht bei den trivialen Sachen zu kauzen!"

Der Dichter schüttelte den Kopf; der Copist schüttelte auch den Kopf; jeder blieb bei seiner Meinung und dann trennten sie sich.
"Es ist ein eigenes Volk, diese Poeten!" dachte der Copist. "Ich möchte wohl probiren, in eine solche Natur einzugehen, selbst ein Poet zu werden; ich bin gewiß, daß ich nicht solche Klageverse schreiben würde, wie die Andern! - - Das ist ein rechter Frühlingstag für einen Dichter! Die Luft ist so ungewöhnlich klar, die Wolken sind so schön und das Grüne duftet so prächtig! Ja, in vielen Jahren habe ich es nicht so gefühlt, wie in diesem Augenblick."
Wir bemerken schon, daß er ein Dichter geworden ist. Dies anzudeuten würde in den meisten Fällen, wie der Deutsche sagt, "abgeschmackt" sein; es ist eine thörichte Vorstellung, sich einen Dichter anders als andere Menschen zu denken; es können unter diesen weit poetischere Naturen sein, als manche anerkannte Dichter es sind. Der Unterschied ist nur der, daß der Dichter ein besseres geistiges Gedächtniß hat: er kann die Idee und das Gefühl festhalten, bis sie klar und deutlich durch das Wort verkörpert sind; das können die Andern nicht. Aber der Uebergang von einer Alltagsnatur zu einer begabten ist immer ein Uebergang, und so muß er bei dem Copisten in das Auge fallen.
"Der herrliche Duft!" sagte er. "Wie erinnert er mich an die Veilchen bei der Tante Lone! Ja, das war, als ich ein kleiner Knabe war. Mein Gott, daran habe ich seit langer Zeit nicht gedacht! Das gute, alte Mädchen! Sie wohnt dort hinter der Börse. Immer hatte sie einen Zweig oder ein paar grüne Schößlinge im Wasser, der Winter mochte so streng sein, wie er wollte. Die Veilchen dufteten, während ich die erwärmten Kupferschillinge gegen die gefrorene Fensterscheibe legte und Gucklöcher machte. Das war eine hübsche Perspective. Draußen im Kanale lagen die Schiffe eingefroren und von der ganzen Mannschaft verlassen, eine schreiende Krähe bildete die einzige Bemannung. Wenn dann die Frühlingslüfte wehten, da wurde es lebendig; unter Gesang und Hurrahruf sägte man das Eis entzwei; die Schiffe wurden getheert und getakelt; dann fuhren sie nach fremden Landen. Ich bin hier geblieben und muß immer bleiben, immer auf der Polizei sitzen und die Andern Pässe zu Reisen nach dem Auslande nehmen sehen. Das ist mein Loos! O ja!" seufzte er tief. Dann hielt er plötzlich inne. "Mein Gott, wie ist mir denn! So habe ich früher nie gedacht oder gefühlt: das muß die Frühlingsluft sein, das ist ebenso ängstlich wie angenehm!" Er griff in die Tasche nach seinen Papieren. "Diese geben mir etwas Anderes zu denken!" sagte er und ließ die Augen über das erste Blatt hingleiten. <<Frau Sigbrith, Originaltragödie in fünf Akten>>, las er. "Was ist das? Und das ist ja meine eigene Hand. Habe ich diese Tragödie geschrieben?" <<Die Intrigue auf dem Walle oder der Bußtag, Vaudeville.>> - "Aber wo habe ich das herbekommen? Man muß mir das in die Tasche gesteckt haben; hier ist ein Brief." Ja, der war von der Theaterdirection; die Stücke waren verworfen und der Brief war durchaus nicht höflich abgefaßt. "Hm! hm!" sagte der Copist und setzte sich auf eine Bank nieder; seine Gedanken waren so elastisch, sein Herz so weich. Unwillkührlich ergriff er eine der nächsten Blumen; es war eine gewöhnliche kleine Gänseblume. Was uns die Botaniker erst durch manche Vorlesungen sagen, verkündet sie in einer Minute. Sie erzählte die Mythe von ihrer Geburt; sie erzählte von der Kraft des Sonnenlichtes, welches die feinen Blätter ausspannte und sie zum Duften zwang. Da gedachte er der Kämpfe des Lebens, die gleichfalls Gefühle in unserer Brust erwecken. Luft und Licht sind Liebhaber der Blume, aber das Licht ist der Begünstigte. Nach dem Licht wendet sie sich; verschwand dieses, so rollte sie ihre Blätter zusammen und schlief in der Umarmung der Luft ein. "Das Licht ist es, was mich schmückt!" sagte die Blume. "Aber die Luft läßt Dich athmen!" flüsterte die Dichterstimme.
Dicht dabei stand ein Knabe und schlug mit seinem Stocke in einen morastigen Graben; die Wassertropfen spritzten zwischen den grünen Zweigen hinauf, und der Copist gedachte der Millionen Infusionsthierchen, die in dem Tropfen in die Höhe geschleudert wurden, was nach ihrer Größe für sie ebenso war, als es für uns sein würde, bis hoch über die Wolkenregion emporgewirbelt zu werden. Indem der Copist daran dachte und an die ganze Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, lächelte er. "Ich schlafe und träume! Merkwürdig ist es gleichwohl, wie natürlich man träumen und doch wissen kann, daß es nur ein Traum ist. Möchte ich mich doch morgen seiner entsinnen können, wenn ich erwache. Ich scheine ganz ungewöhnlich aufgelegt zu sein! Ich habe eine klare Anschauung von Allem, fühle mich so aufgeweckt; aber ich bin sicher, daß, wenn ich morgen etwas davon behalten habe, es dummes Zeug ist: das ist mir schon sonst begegnet! Es geht mit allem Klugen und Prächtigen, was man im Traume sagt und hört, wie mit dem Gelde der Unterirdischen: indem man es erhält, ist es reich und herrlich, aber bei Tage besehen, sind es nur Steine und vertrocknete Blätter. Ach!" seufzte er ganz wehmüthig und betrachtete die singenden Vögel, die fröhlich von Zweig zu Zweig sprangen. "Die haben es weit besser, als ich! Fliegen, das ist eine herrliche Kunst! Glücklich Der, welcher damit geboren ist! Ja, könnte ich mich in etwas verwandeln, dann sollte es in eine solche kleine Lerche sein!"
In demselben Augenblicke flogen Rockschöße und Aermel in Flügel zusammen, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zu Klauen; er bemerkte es ganz wohl und lachte innerlich: "So, nun kann ich doch sehen, daß ich träume! Aber so närrisch habe ich es früher nie gethan!" Und er flog in die grünen Zweige hinauf und sang; aber es war keine Poesie im Gesange, denn die Dichternatur war fort. Die Galoschen konnten, wie Jeder, der etwas gründlich thun will, nur Eine Sache auf einmal besorgen. Er wollte Dichter sein: das wurde er. Nun wollte er ein kleiner Vogel sein, und indem er dies wurde, hörte die vorige Eigenthümlichkeit auf.
"Das ist allerliebst!" sagte er. "Bei Tage sitze ich auf der Polizei unter den solidesten Actenstücken; Nachts kann ich träumen, als Lerche im Friedrichsberger Garten zu fliegen. Es könnte wahrlich eine ganze Volkskomödie davon geschrieben werden!"
Nun flog er in das Gras nieder, drehte den Kopf nach allen Seiten herum und schlug mit dem Schnabel auf die geschmeidigen Grashalme, die, im Verhältniß zu seiner gegenwärtigen Größe, ihm so lang wie die Palmzweige Nordafrikas erschienen.
Es war nur einen Augenblick so, dann wurde es kohlschwarze Nacht um ihn. Ein, wie es ihm erschien, ungeheurer Gegenstand wurde über ihn hingeworfen: es war eine große Mütze, welche ein Matrosenknabe über den Vogel warf. Eine Hand kam herein und ergriff den Copisten um Rücken und Flügel, sodaß er pfiff. Im ersten Schreck rief er laut: "Du unverschämter Balg! Ich bin Copist auf der Polizei!" Aber das klang dem Knaben wie ein Piep-piep! Er schlug den Vogel auf den Schnabel und wanderte davon.
In der Allee begegnete er zwei Schulknaben der gebildeten Classe, das heißt, gesellschaftlich betrachtet; als Geister waren sie in der niedrigsten Classe der Schule; diese kauften den Vogel für acht Schillinge, und so kam der Copist nach Kopenhagen zurück.
"Es ist gut, daß ich träume," sagte der Copist, "sonst würde ich wahrlich böse! Zuerst war ich Poet, nun bin ich eine Lerche! Ja, das war sicher die Poetennatur, die mich in das kleine Thier verwandelte! Es ist doch eine jämmerliche Geschichte, besonders wenn man Knaben in die Hände fällt. Ich möchte wohl wissen, wie das abläuft!"
Die Knaben brachten ihn in eine höchst elegante Stube hinein; eine dicke, lächelnde Dame empfing sie. Aber sie war durchaus nicht darüber erfreut, daß der gemeine Feldvogel, wie sie die Lerche nannte, mit hereinkam. Nur für heute wollte sie es sich gefallen lassen, doch mußten sie den Vogel in den leeren Käfig setzen, der am Fenster stand. "Das wird vielleicht dem Papchen Freude machen!" fügte sie hinzu und lachte einen großen grünen Papagei an, der sich vornehm in seinem Ring in dem prächtigen Messingkäfig schaukelte. "Es ist Papchens Geburtstag!" sagte sie einfältiglich; "deshalb will der kleine Feldvogel gratuliren!"
Papchen erwiderte nicht ein einziges Wort, sondern schaukelte vornehm hin und her; dagegen fing ein hübscher Kanarienvogel, der im letzten Sommer aus seinem warmen, duftenden Vaterlande hierher gebracht war, laut zu singen an.
"Schreihals!" sagte die Dame und warf ein weißes Taschentuch über den Käfig.
"Piep-piep!" seufzte er. "Das ist ein erschreckliches Schneewetter!" Und mit diesem Seufzer schwieg er.
Der Copist oder, wie die Dame sagte, der Feldvogel kam in einen kleinen Käfig, dicht neben dem Kanarienvogel, nicht weit vom Papagei. Die einzige menschliche Tirade, welche Papchen plaudern konnte und die oft recht komisch klang, war die: "Nein, laßt uns nun Menschen sein!" Alles Uebrige, was er schrie, war ebenso unverständlich, wie das Zwitschern des Kanarienvogels, nur nicht für den Copisten, der nun selbst ein Vogel war; er verstand seine Kameraden sehr gut.
"Ich flog unter der grünen Palme und dem blühenden Mandelbaume!" sang der Kanarienvogel. "Ich flog mit meinen Brüdern und Schwestern über die prächtigen Blumen und über den spiegelklaren See hin, wo die Pflanzen sich auf dem Boden wiegten. Ich erblickte auch viele schöne Papageien, welche die lustigsten Geschichten erzählten, so viele und so lange!"
"Das waren wilde Vögel," erwiderte der Papagei; "die besaßen keine Bildung. Nein, laßt uns nun Menschen sein! - Weshalb lachst Du nicht? Wenn die Dame und alle Fremden darüber lachen können, so kannst Du es auch. Es ist ein großer Fehler, das Ergötzliche nicht goutiren zu können. Nein, laßt uns nun Menschen sein!"
"O, entsinnst Du Dich der hübschen Mädchen, die unter dem ausgespannten Zelte bei den blühenden Bäumen tanzten? Entsinnst Du Dich der süßen Früchte und des kühlenden Saftes in den wildwachsenden Kräutern?"
"O ja," sagte der Papagei; "aber hier habe ich es weit besser! Ich habe gutes Essen und eine feine Behandlung; ich weiß, ich bin ein guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. Laßt uns nun Menschen sein! Du bist eine Dichterseele, wie die es nennen. Ich habe gründliche Kenntnisse und Witz; Du hast Genie, aber keine Besonnenheit; Du steigst in diese hohen Naturtöne hinauf, und deshalb wirst Du zugedeckt. Das bietet man mir nicht; nein, denn ich habe ihnen etwas mehr gekostet! Ich imponire mit meinem Schnabel und kann mit "Witz" um mich werfen. Nein, laßt uns nun Menschen sein!"
"O mein warmes, blühendes Vaterland!" sang der Kanarienvogel; "ich will Deine dunkelgrünen Bäume und Deine stillen Meerbusen besingen, wo die Zweige die klare Wasserfläche küssen; singen von dem Jubel aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, wo "der Wüste Quellenpflanzen"*) wachsen!"
"Laß doch nur diese elegischen Töne!" sagte der Papagei. "Singe etwas, worüber man lachen kann! Gelächter ist das Zeichen des höchsten geistigen Standpunktes. Sieh, ob ein Hund oder ein Pferd lacht! Nein, weinen können sie, aber lachen - das ist allein dem Menschen gegeben. Ho, ho, ho!" lachte das
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*) Cactus.

Papchen und fügte seinen Witz: "Laßt uns nun Menschen sein!" hinzu.

"Du kleiner, grauer, dänischer Vogel," sagte der Kanarienvogel, "Du bist auch Gefangener geworden! Es ist sicher kalt in Deinen Wäldern, aber da ist doch Freiheit. Fliege hinaus! Man hat vergessen, Deinen Käfig zu schließen; das oberste Fenster steht auf. Fliege, fliege!"
Instinctmäßig gehorchte der Copist und war aus dem Käfig; in demselben Augenblicke knarrte die halb geöffnete Thür zum nächsten Zimmer, und geschmeidig, mit grünen, funkelnden Augen, schlich sich die Hauskatze herein und machte Jagd auf ihn. Der Kanarienvogel flatterte im Käfig, der Papagei schlug mit den Flügeln und rief: "Laßt uns nun Menschen sein!" Der Copist fühlte den tödtlichsten Schreck und flog durch das Fenster, über die Häuser und Straßen davon; zuletzt mußte er etwas ausruhen.
Das gegenüberliegende Haus hatte etwas Heimisches. Ein Fenster stand auf; er flog hinein; es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch.
"Laßt uns nun Menschen sein!" sprach er unwillkürlich dem Papagei nach, und in demselben Augenblick war er der Copist; aber er saß auf dem Tische.
"Gott bewahre mich!" sagte er. "Wie bin ich hier herauf gekommen und so in Schlaf verfallen! Das war auch ein unruhiger Traum, den ich hatte. Dummes Zeug war doch die ganze Geschichte."

VI. Das Beste, was die Galoschen brachten

Am darauffolgenden Tage, in der frühen Morgenstunde, als der Copist noch im Bette lag, klopfte es an seine Thür; es war sein Nachbar in derselben Etage, ein junger Theolog, er trat herein.
"Leihe mir Deine Galoschen," sagte er; "es ist so naß im Garten, aber die Sonne scheint herrlich: ich möchte wohl eine Pfeife dort unten rauchen."
Die Galoschen zog er an und bald war er unten im Garten, welcher einen Pflaumen- und einen Apfelbaum enthielt. Selbst ein so kleiner Garten, wie dieser, gilt im Innern der Städte für eine große Herrlichkeit.
Der Theolog wanderte im Gange auf und nieder; die Uhr war erst sechs; draußen auf der Straße ertönte ein Posthorn.
"O, Reisen! Reisen!" rief er aus; "das ist doch das größte Glück in der Welt! Das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da würde diese Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müßte es sein! Ich möchte die herrliche Schweiz sehen, Italien bereisen und -"
Ja, gut war es, daß die Galoschen sogleich wirkten, sonst wäre er gar zu weit herumgekommen, sowohl für sich selbst, wie für uns Andere. Er reiste. Er war mitten in der Schweiz, aber mit acht Andern in das Innere einer Diligence gepackt. Er hatte Kopfschmerzen, fühlte sich müde im Nacken, und das Blut war ihm in die Füße hinabgesunken, die angeschwollen waren und von den Stiefeln gedrückt wurden. Er schwebte in einem Zustande zwischen Schlafen und Wachen. In seiner Tasche zur Rechten hatte er das Accreditiv, in seiner Tasche zur Linken den Paß und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust einige festgenähte Louisd'or. Jeder Traum verkündete, daß er die eine oder die andere von diesen Kostbarkeiten verloren habe, und deshalb fuhr er fieberartig empor, und die erste Bewegung, welche die Hand machte, war ein Dreieck von der Rechten zur Linken und gegen die Brust hinauf, um zu fühlen, ob er seine Sachen noch habe oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netze über ihm und benahmen so ziemlich die Aussicht, die höchst imponirend war; er schielte danach, während das Herz sang, was wenigstens schon ein Dichter, den wir kennen, in der Schweiz gesungen, bis jetzt aber noch nicht hat drucken lassen:

"Hier ist's so schön, wie das Herz nur will,
Montblanc seh' ich, den steilen.
Wenn nur das Geld ausreichen will,
Ach, dann ist hier gut weilen!"

Groß, ernst und dunkel war die ganze Natur rings um ihn her. Die Tannenwälder erschienen wie Haidekraut auf den hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren: nun begann es zu schneien, der kalte Wind blies.
"Uh!" seufzte er; "wären wir doch auf der andern Seite der Alpen, dann wäre es Sommer und ich hätte Geld auf mein Accreditiv erhoben; die Angst, die ich für dieses fühle, macht, daß ich die Schweiz nicht genieße. O, wäre ich doch erst auf der andern Seite!"
Und da war er auf der andern Seite; tief hinein in Italien war er, zwischen Florenz und Rom. Der trasimenische See lag in der Abendbeleuchtung wie flammendes Gold zwischen den dunkelblauen Bergen. Hier, wo Hannibal den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken friedlich an den grünen Fingern; liebliche, halbnackte Kinder hüteten eine Heerde kohlschwarzer Schweine unter einer Gruppe duftender Lorberbäume am Wege. Könnten wir dieses Gemälde richtig wiedergeben, so würden Alle jubeln: "Herrliches Italien!" Aber das sagte keineswegs der Theolog oder irgend einer von seinen Reisegefährten im Wagen des Vetturins.
Giftige Fliegen und Mücken flogen bei ihnen zu Tausenden in den Wagen hinein. Vergebens schlugen sie mit einem Myrtenzweige um sich: die Fliegen stachen dessenungeachtet. Es war nicht Ein Mensch im Wagen, dessen Gesicht nicht von blutigen Bissen angeschwollen gewesen wäre. Die armen Pferde sahen wie Aeser aus; die Fliegen saßen in großen Schaaren auf denselben, und nur augenblicklich half es, daß der Kutscher hinabstieg und die Thiere abschabte. Nun sank die Sonne unter; eine kurze, aber eisige Kälte ging durch die ganze Natur; es war wie des Grabgewölbes kalte Luft nach einem heißen Sommertage; aber ringsumher erhielten Berge und Wolken den sonderbaren grünen Ton, welchen wir auf einzelnen alten Gemälden finden und, wenn wir ein solches Farbenspiel nicht im Süden erlebt haben, für unnatürlich halten. Es war ein herrliches Schauspiel, allein - der Magen war leer, der Körper ermüdet; alle Sehnsucht des Herzens drehte sich um ein Nachtquartier, aber wie wird das ausfallen! Man blickte weit inniger danach, als nach der schönen Natur.
Der Weg ging durch einen Olivenwald; es war, als führe er daheim zwischen knotigen Weiden. Hier lag das einsame Wirthshaus. Ein Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich vor demselben gelagert; der rascheste derselben sah aus, wie, um einen Marryat'schen Ausdruck zu gebrauchen, "der älteste Sohn des Hungers, der das Alter seiner Volljährigkeit erreicht hat";*) die andern waren entweder blind oder hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen, oder geschwundene Arme mit fingerlosen Händen. Das war das Elend recht aus den Lumpen gezogen. "Eccellenza, miserabili!" seufzten sie und streckten die kranken Glieder vor. Die Wirthin selbst, mit bloßen Füßen, mit ungeordneten Haaren und nur mit einer schmutzigen Blouse bedeckt, empfing die Gäste. Die Thüren waren mit Bindfaden zusammengebunden; der Fußboden in den Zimmern bot ein halbaufgewühltes Pflaster von Mauersteinen dar; Fledermäuse flogen unter der Decke hin, und der Gestank drinnen - -
"Ja, decken Sie den Tisch unten im Stall!" sagte einer der Reisenden. "Dort weiß man doch, was man einathmet!"
Die Fenster wurden geöffnet, damit etwas frische Luft hereindringen konnte; aber schneller, als diese, kamen die verdorrten Arme und das ewige Jammern: Miserabili, Eccellenza! herein. An den Wänden standen viele Inschriften: die Hälfte war gegen die bella Italia!
Das Essen wurde aufgetragen; es war eine Suppe von Wasser, gewürzt mit Pfeffer und ranzigem Oel. Letzteres spielte die Hauptrolle beim Salat; verdorbene Eier und gebratene Hahnenkämme waren die besten Gerichte; selbst der Wein hatte einen Beigeschmack: es war eine wahre Mixtur.
Zur Nacht wurden die Koffer gegen die Thür gestellt; einer der Reisenden hatte die Wache, während die andern schliefen; der Theolog war der Wachthabende; o wie schwül war es drinnen! Die Hitze drückte, die Mücken summten und stachen, die miserabili draußen jammerten im Traume.
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*) Snarleyyow.

"Ja, reisen ist schon gut," sagte der Theolog, "hätte man nur keinen Körper! Könnte dieser ruhen und der Geist dagegen fliegen! Wohin ich komme, fühle ich einen Mangel, der das Herz drückt; etwas Besseres, als das Augenblickliche, ist es, was ich haben will; ja, etwas Besseres, das Beste; aber wo und was ist es? Im Grunde weiß ich wohl, was ich will: ich will zu einem glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!"
Und sowie das Wort ausgesprochen war, befand er sich in der Heimath. Die langen, weißen Gardinen hingen vor den Fenstern herab und mitten auf dem Fußboden stand der schwarze Sarg; in diesem lag er in seinem stillen Todesschlaf; sein Wunsch war erfüllt: der Körper ruhte, der Geist reiste. Preise Niemanden glücklich, bevor er in seinem Grabe ist, waren die Worte Solons; hier wurde ihre Bekräftigung erneuert.
Jede Leiche ist eine Sphinx der Unsterblichkeit; auch die Sphinx hier auf dem schwarzen Sarkophage beantwortete uns, was der Lebende zwei Tage vorher niedergeschrieben hatte:

Du starker Tod, Dein Schweigen machet Grau'n;
Du hinterläßt als Spur nur Kirchhofsgräber.
Soll nicht der Geist die Jacobsleiter schau'n?
Nur auferstehn als Todesgartengräser?

Das größte Leiden sieht die Welt oft nicht!
Du, der Du einsam warst bis an Dein Ende,
Weit schwerer drückt das Herz so manche Pflicht,
Als hier die Erde an des Sarges Wände!

Zwei Gestalten bewegten sich im Zimmer. Wir kennen sie beide: es war die Fee der Sorge und die Abgesandte des Glücks. Sie beugten sich über den Todten hin.
"Siehst Du?" sagte die Sorge. "Welches Glück brachten Deine Galoschen wohl der Menschheit?"
"Sie brachten wenigstens ihm, der hier schlummert, ein dauerndes Gut!" antwortete die Freude.
"O nein!" sagte die Sorge. "Selbst ging er fort, er wurde nicht gerufen! Seine geistige Kraft war nicht stark genug, um die Schätze hier zu heben, die er seiner Bestimmung nach heben muß! Ich will ihm eine Wohlthat erweisen!"
Und sie zog die Galoschen von seinen Füßen; da war der Todesschlaf geendet, der Wiederbelebte erhob sich. Die Sorge verschwand, mit ihr aber auch die Galoschen; sie hat sie gewiß als ihr Eigentum betrachtet.

Hans Christian Andersen (1805-1875)